Wenige Monate vor seinem 70. Geburtstag gerät Indien zunehmend in die Kritik internationaler Menschenrechtsorganisationen. In der mit 1,3 Milliarden Einwohnern größten Demokratie der Welt, die im August den 70. Jahrestag der Unabhängigkeit feiert, verändern sich die Koordinaten.
Ob Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums, Amnesty International, die Gesellschaft für bedrohte Völker oder die katholischen Hilfswerke missio Aachen und Kirche in Not: Sie bescheinigen dem Land, das laut Verfassung von 1950 eine säkulare und plurale Demokratie ist, eine problematische Entwicklung.
Muslime, Christen und moderate Hindus unter Druck
Mit Sorge verfolgen Menschenrechtler und kirchliche Hilfsorganisationen, wie die fanatische Hindu-Bewegung RSS, die eng mit der Regierungspartei BJP verknüpft ist, an Einfluss gewinnt. «Indien den Hindus», lautet die Parole. Der seit 2014 regierende Premier Narenda Modi spricht sich zwar offiziell für Pluralismus aus, schweigt aber zu radikalen Äußerungen und Übergriffen. Viele Täter gehen straflos aus.
Muslime, Christen und moderate Hindus geraten unter Druck. Muslime werden beschuldigt, Kühe geschlachtet zu haben, die den Hindus heilig sind. In Schulbüchern wird die Geschichte Indiens im Sinn der Nationalisten neu erzählt. Hinduistische Hassprediger werfen Christen vor, Agenten des Westens zu sein.
Zwei Drittel der Christen in Indien werden verfolgt
Am Mittwoch bescheinigte die international agierende evangelikale Organisation Open Doors Indien mit Rang 15 auf dem Index für weltweit verfolgte Christen die schlechteste bislang gemessene Platzierung. "Hindu-Nationalisten prügeln immer häufiger Pastoren, brennen Kirchen nieder und üben massiven Druck auf Konvertiten aus, zum Hinduismus zurückzukehren", heißt es im Bericht.
Etwa 39 Millionen der 64 Millionen Christen im Land seien betroffen, besonders auch die kastenlosen und damit vielfach verachteten Dalits, die sich in großer Zahl den christlichen Kirchen zuwenden, weil sie ihnen Bildung und Fortkommen sowie eine Alternative zum rigorosen Kastensystem ermöglichen. Mehrere Bundesstaaten haben deshalb Antikonversionsgesetze erlassen - die aber nicht gelten, wenn es um Konversionen zum Hinduismus geht. Hindu-Nationalisten behaupten, 2014 mehr als 30.000 Menschen zum Hinduismus "heimgeführt" zu haben.
2015 besonders viele Angriffe auf Christen
Seit dem Amtsantritt Modis im Mai 2014 habe die Zahl der Übergriffe auf religiöse Minderheiten deutlich zugenommen, sagte Ajaya Kumar Singh, katholischer Priester in Bhubaneswar, der Hauptstadt des Bundesstaates Odisha, kürzlich der Katholischen Nachrichten-Agentur. Der katholische Priester schreibt mit am in diesem Jahr erwarteten Bericht des UN-Menschenrechtsrates zu Indien.
Nach seinen Angaben haben Menschenrechtsorganisationen mehr als 760 gewalttätige Übergriffe gegen religiöse Minderheiten zwischen Mai 2014 und September 2015 dokumentiert. 136 der seit März 2015 verübten 163 Angriffe waren gegen Christen gerichtet, darunter auch zahlreiche Vergewaltigungen von Frauen.
Eine Minderheit radikalisiert das Klima in Indien
Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und die säkulare Lebensweise geraten unter Druck. Für viele Christen und gemäßigte Hindus und Moslems, aber auch für säkular gesinnte Inder, bedeute das einen Angriff auf die Seele ihres Landes, sagt der katholische Erzbischof von Vasaj, Felix Machado: Eine kleine, aber einflussreiche Minderheit radikaler Hindus verändere das bislang weitgehend tolerante Klima, sagt der katholische Geistliche.
Ein Hotspot ist der Bundesstaat Odisha (bis 2011 Orissa). Im August 2008 eskalierte dort die Situation, nachdem dort ein bedeutender Hindu-Mönch ermordet worden war. Obwohl maoistische Gruppen die Verantwortung übernahmen, schoben Hindu-Nationalisten den Christen die Schuld zu. Vier Monate tobte der Mob. Mehr als 100 Christen wurden ermordet, Tausende verletzt, 5.600 Häuser geplündert und in Brand gesteckt und mehr als 300 Kirchen zerstört. Mehr als 50.000 Christen mussten fliehen - und leben teils bis heute in Behelfsunterkünften, weil sie nicht in ihre Dörfer zurückkehren dürfen. Und die, die zurückkehren, fürchten täglich, dass ihre Nachbarn wieder zu Plünderern und Mördern werden könnten.