Für nicht wenige Menschen ist das Leben in der Diaspora, in der Zerstreuung, Wirklichkeit. Kulturelle und religiöse Identität dort zu pflegen, ist nicht überall selbstverständlich, erklärt Dr. Gunther Fleischer von der Erzbischöflichen Bibel- und Liturgieschule in Köln. "Ich lebe in einem Zusammenhang, wo ich entweder nur geduldet bin, wo ich vielleicht auch belächelt oder sogar verfolgt werde. Und ich muss mich in solchen Zusammenhängen fragen, wie ich meine religiösen Eigenheiten leben kann und ob ich das überhaupt will."
Aufforderungen zu einem bestimmten Verhalten von in der Fremde weilenden Israeliten gibt es im Alten Testament einige. Der Prophet Jeremia schreibt den Juden im Babylonischen Exil einen Brief und fordert sie darin auf, sich um das Wohl der Stadt, in der sie leben, zu bemühen, da in ihrem Wohl auch das wohl der Israeliten liege. Fleischer sieht darin kein Gebot der Feindesliebe, sondern eine eher pragmatische Anweisung. "Stell euch darauf ein, dass dieses Leben in der Fremde länger dauert und nicht heute oder morgen vorbei ist. Deshalb müsst ihr mit der Situation zurechtkommen." Jeremia ist aber auch davon überzeugt, dass Gott selbst es ist, der das Volk in diese Situation hineingeführt hat. Das Revolutionäre an diesem Text ist jedoch, dass Jeremia keine Scheu davor hat, dass sich die Israeliten vermehren und mit den Babyloniern vermischen. "Das ist keineswegs selbstverständlich. Normalerweise heißt es: Haltet Abstand! Und jetzt heißt es: Tut euch mit denen zusammen!", fasst Theologe Fleischer die Kernaussage des Textes zusammen, Völlig unberücksichtigt bleibe hier aber, wie die religiöse Erziehung der Kinder aussehen und welchen Glauben diese annehmen sollen.
Ganz gegensätzlich dazu sind die Empfehlungen, die Tobit seinem Sohn Tobias mit auf dem Weg gibt, wenn dieser seine lange Reise nach Medien antritt. Hier geht es dem Vater um die Treue zum eigenen Ethos, um die Einhaltung des jüdischen Regelwerkes. "All das, was für das Judentum selbstverständlich ist, ist für die Umwelt keineswegs selbstverständlich", ordnet Gunther Fleischer die Weisungen des Tobit ein. Erheblich rigider als bei Jeremia wird jedoch in der Frage der Volksvermischung verfahren. Jüdische Familien sollen auch nur innerhalb des Judentums verbleiben, man soll sogar nur innerhalb des eigenes Stammes heiraten. Im Hinblick auf Integration und Leben der eigenen Tradition in der Fremde heute warnt Fleischer allerdings davor, aus den Bibel-Texten eine Handlungsmaxime abzuleiten. "Die Heilige Schrift hat für die Frage, wie ich mit meiner Religion in der Fremde umgehe, sehr unterschiedliche Antworten. Es ist keine Frage der Theorie, sondern da spielen sich unterschiedliche Haltungen wider, die im Volk alle vertreten waren."
Auch in einem sehr späten Buch des alten Testaments erfolgt die Auseinandersetzung damit, wie jüdisches Leben in der Diaspora auszusehen hat. So ist das Buch der Weisheit von vornherein auf Griechisch geschrieben und wirft den Blick auf das Judentum in der griechischen Kultur. Ähnlich wie Gesellen und Handwerker ihr Wissen durch die Bereisung fremder Länder anreichern, so empfiehlt Jesus Sirach auch dem Verkündiger, dass er nicht nur die eigene Schrift kennen muss, sondern auch das Denken und den Glauben der anderen Völker, erklärt Dr. Fleischer. "Das bedeutet, ich muss mich ins Ausland begeben. Ich muss reisen und erst einmal Wissen erwerben, kulturelles und weltweites Wissen. Und eine solche Sicht für den Verkündiger ist natürlich sehr ungewöhnlich."
Der Vergleich des Gottesbundes mit der Ehe kommt in der Bibel durchaus häufiger vor. Auch der Prophet Maleachi tut dies und sieht daher die Heirat fremder Frauen als Bruch mit diesem Bund. Zwar hat Gott nach dem biblischen Bekenntnis alle Menschen geschaffen, so dass alle auch denselben Vater haben. Doch bekennen sich nicht alle Menschen zu diesem einen Gott, so sieht es Maleachi. "Und wenn ich mich jetzt mit jemandem zusammentue, der diese Sicht nicht teilt, steht meine eigene Beziehung zu Gott auf einmal in Frage", erläutert der Kölner Bibel-Experte Fleischer die Denkweise des Propheten.
Welche Anweisungen Christen erhalten haben, die in der Disapora lebten, zeigt die Offenbarung des Johannes. In einer Symbolsprache, die für Außenstehende nicht verstanden wird, schreibt Johannes an die Gemeinde von Pergamon, die in einer alles anderen als gottesfürchtigen Umgebung lebt. Als "Ort, wo der Satan wohnt" werden zum Beispiel die Tempel bezeichnet, in denen der Kaiser als Gott verehrt wird. Daneben wird das Bild Bileams, der im Alten Testament die Israeliten beim Durchzug durch Moab gesegnet hat, in einem negativen Licht gesehen. "Er wird zu jemandem, der aus Habgier zu Götzendienst und Hurerei verführt", erklärt Fleischer die Hintergrundfolie für die Erwähnung Bileams in der Offenbarung. Es habe damals eine Gruppe von Christen gegeben, die einerseits am eigenen Glauben festhalten, sich andererseits aber auch am heidnisch-römischen Leben beteiligen wollten und daher zu Kompromissen bereit waren. "Und das passt dem Verfasser der Offenbarung, dem Johannes, überhaupt nicht."
Zu besprechende Texte:
- Jer 29,1-9
- Tob 4,1-19
- Sir 38,24 + 39,1-11
- Mal 2,10-16
- Offb 2,12-17