domradio.de: Das Motto in diesem Jahr ist Soziale Verantwortung. Ist das eine Reaktion auf die aktuellen politischen Ereignisse, wie die Salafisten und den Terror der IS im Irak?
Eren Güvercin: "Ich finde das Motto in diesem Jahr sehr wichtig, weil das ein Kernbereich der Moschee-Arbeit ist. Eine Moschee ist im traditionell-klassischen Sinne nicht nur ein Raum, in dem man das Gebet verrichtet, sondern mehr als das. Wenn wir uns zum Beispiel auf dem Balkan oder in der islamischen Welt oder der Türkei die alten Moschee-Anlagen anschauen, dann sehen wir: Der Gebetsraum war nur ein Teil der Moscheen. Um diesen Raum herum war ein Komplex angesiedelt, mit verschiedenen Gebäuden und Einrichtungen, mit Armenküchen, Bibliotheken, Ärzte waren vor Ort – also eine Anlaufstelle für soziale Dienstleistungen. Ich finde es sehr wichtig, gerade im Kontext der ganzen Debatten um ISIS und so weiter, dass durch diesen Tag der offenen Moschee und mit diesem Motto der Gesellschaft gezeigt wird, dass die Muslime nicht nur mit Problemen kontextualisiert werden, sondern sie haben auch der Gesamtgesellschaft, nicht nur den Muslimen, sondern der gesamten deutschen Gesellschaft, etwas beizutragen."
domradio.de: Welche soziale Verantwortung haben Muslime in Deutschland? Ist das eine andere Verantwortung, als sie andere Gruppen haben?
Güvercin: "Das wurde bisher nie so wahrgenommen, weil die Muslime teilweise auch den Fehler begangen haben, das der Öffentlichkeit nicht wirklich zu präsentieren. Oder man war so sehr damit beschäftigt auf die ganzen Islamdebatten der letzten 13, 14 Jahre zu reagieren, dass einige Muslime vergessen haben zu unterstreichen, was man überhaupt der Gesellschaft anzubieten hat. Nicht nur zu reagieren, sondern auch zu agieren, eigene Themen zu setzen wie zum Beispiel „soziale Verantwortung“. Es ist eine wichtige Aufgabe der Muslime in Deutschland, zu zeigen, wofür der Islam eigentlich steht. Es wird in öffentlichen Debatten immer versucht, der Öffentlichkeit klarzumachen, wogegen der Islam ist. Er ist gegen Ehrenmord, er ist gegen die Unterdrückung der Frau, gegen Gewalt."
domradio.de: Man weiß also, wogegen der Islam ist. Aber wofür ist er denn?
Güvercin: "Nach meinem Verständnis fängt es mit guter Nachbarschaft an, dass man mit seinem Umfeld auch kommuniziert. Dazu gehört die deutsche Sprache. Man zieht sich nicht zurück in ein Ghetto und man beruft sich nicht, obwohl man schon seit 2., 3. Generation in Deutschland ist, nicht mehr auf seinen ominösen Migrationshintergrund, sondern man ist mitten dabei und agiert mit der Gesellschaft, man engagiert sich und man will auch zeigen, wieso der Islam fasziniert und dazu gehören verschiedene Facetten. Soziale Verantwortung ist ein Bereich. Wenn wir uns die islamische Geschichte angucken, da haben Stiftungen einen großen Wert gehabt in der Gesellschaft. Mehr als irgendwelche politischen Zusammenschlüsse, Vereine, Verbände. Man hat auf lokaler Ebene versucht, der Gesellschaft etwas zu geben. Und das muss auch heute immer mehr ins Zentrum."
domradio.de: Setzt der „Tag der offenen Moschee“ schon genug Akzente um aufzuklären über den Islam und das muslimische Leben oder könnte da noch mehr getan werden?
Güvercin: "Symbolisch finde ich es wichtig, dass dieser Tag existiert. Auch dass er am Tag der Deutschen Einheit stattfindet, finde ich symbolisch wichtig. Aber mit einem Tag im Jahr ist es nicht getan. Die große Herausforderung für uns Muslime ist, dass wir eine muslimisch aktive und pulsierende Zivilgesellschaft in Deutschland aufbauen. Das ist nicht gegen die Verbände gerichtet, sondern man muss sie mit an Bord nehmen. Aber manchmal ist dieser innermuslimische kritische Diskurs mit den Verbänden etwas mühselig, aber da bin ich jetzt nicht pessimistisch. Und zum Thema „muslimisches Leben näher an die Leute heranbringen“ kann ich Ihnen ein Beispiel nennen. Ich war letzte Woche in einer großen Moschee in Köln beim Freitagsgebet und die komplette Predigt war auf Türkisch. Und ich habe gesehen, dass um mich herum einige deutsche Jugendliche standen und die haben kein Wort verstehen können. Und damit fängt es meiner Meinung nach an. Ich finde es wichtig, dass man wirklich teilweise auch von den salafistischen Wanderpredigern sich eine Scheibe abschneidet, weil sie in der Sprache der Jugendlichen reden, sie kommunizieren auf Deutsch. In der Hinsicht kann man sich von ihnen was abschneiden. Da hinken die Verbände um einige Jahre hinterher. Und wenn eine große Zentralmoschee in Köln eine rein türkische Predigt macht, dann muss man realisieren, dass 30 Prozent der Gläubigen kein Wort versteht."
Das Interview führte Friederike Seeger