Manchmal liegt die Rettung in einer Art Gefangenschaft. Idyllisch liegt das Ketscher Pfarrhaus da, unter seinem Walmdach aus roten Ziegeln und den grün gestrichenen Fensterläden. Dahinter windet sich der Altrhein. Gerne hätte Vajiheh Shapouri, damals Anfang dreißig, mit ihrer kleinen Tochter einen Spaziergang am Ufer gemacht.
Daran war nicht zu denken. Die Iranerin hätte nicht einmal gewagt, einen Fuß auf die Straße zu setzen, um von dort aus einen Blick auf ihre neue Bleibe zu werfen.
Heute, drei Jahre später, ist sie in Sicherheit. Aber in den sieben Monaten, in denen sie mit Mann und Tochter Kirchenasyl im Dachgeschoss des Pfarrhauses fand, verließ Shapouri das Grundstück nicht - mit einer Ausnahme. "Ein Mal war ich draußen", sagt sie auf Deutsch, dabei klingt sie energisch. Damals hatte sie Zahnschmerzen, Pfarrer Walter Sauer brachte sie zum Arzt. Sauer - drahtige Statur, grauer Stoppelbart, Nickelbrille - parkte seinen roten Toyota gleich vor der Eingangstür zum Pfarrbüro.
Sauer: "Ich hatte immer Angst, die Polizei kommt"
Shapouri musste nur noch einsteigen. Eine Sache von wenigen Sekunden, während derer der Pfarrer die Straße nicht aus den Augen ließ. "Das alles war ja nur halb-legal, ich hatte immer Angst, die Polizei kommt", erzählt er. Seinen iranischen Schützlingen schärfte er ein: "Geht bloß nicht vor die Tür."
Mit so viel Aufregung am Ende seines Berufslebens hatte Pfarrer Sauer nicht gerechnet. Der Ruhestand war zum Greifen nahe, als sich der Anwalt der dreiköpfigen Familie an ihn wandte: ob er bereit sei, ihr Kirchenasyl zu gewähren? Schließlich hatte er die Familie ein paar Monate zuvor, am ersten Advent 2013, katholisch getauft. Mit Kirchenasyl hatte sich Pfarrer Sauer bis dahin nie beschäftigt, dennoch gab es für ihn nicht viel zu überlegen. "Ich kann sie ja nicht taufen und dann sagen, ihr Schicksal ist mir egal", erinnert er sich. Darin stimmte ihm auch der Pfarrgemeinderat zu.
Mehr als 530 Flüchtlinge erhalten derzeit Kirchenasyl
Immer wieder bieten Kirchen in Deutschland Flüchtlingen Schutz. Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche weiß von 348 Fällen mit mindestens 531 Flüchtlingen, die derzeit in der Obhut von Kirchen sind. In der Politik sorgt das Kirchenasyl für Diskussionen. Vor allem, weil es in rund 90 Prozent der Fälle das geltende Recht umgeht, wonach eigentlich ein anderes EU-Land für die Flüchtlinge zuständig wäre.
So war es auch bei Shapouris Familie. Ihr drohte die Ausweisung nach Italien. Ein Schleuser hatte ihnen ein Flugticket von Teheran nach Frankfurt am Main besorgt, dazu ein Visum für Italien. Fragen zu den Formalitäten hätten sie nicht gestellt, sagt Shapouri. Die deutschen Behörden erklärten, sie seien für die Familie nicht zuständig, und ihre Tage in einer Heidelberger Flüchtlingsunterkunft schienen gezählt. Wie es in Italien weitergehen würde, war ungewiss.
"Dort hätte man ihren Asylantrag ablehnen und sie in den Iran zurückschicken können", sagt Sauer. "Und wer weiß, wie es ihnen dort ergangen wäre."
Wer dem Islam den Rücken kehrt, bringt sich in Gefahr
Der Grund für seine Sorgen: Die Shapouris sind Christen, wurden aber als Schiiten geboren. Christen im Iran genießen zwar gewisse Rechte. Aber wer dem Islam den Rücken kehrt, bringt sich in Gefahr. Diskriminierung im täglichen Leben ist für Muslime, die zum Christentum konvertieren, noch das geringste Übel. Zu Razzien, Festnahmen und Verurteilungen kommt es laut Amnesty International immer wieder.
Auch Shapouri bekam es im Iran schon mit der Polizei zu tun - zumindest beinahe, wie sie sagt. In ihrem Frisörsalon im Teheraner Stadtteil Gisha habe sie eine Christin kennengelernt. Sie mochte die Frau, die ihr von Jesus erzählte. Shapouris Interesse war geweckt. Sie traf sich mit anderen, um gemeinsam in der Bibel zu lesen. Jede Woche, berichtet sie, saßen sie in einer anderen Wohnung zusammen. Was ihr gefiel, lässt sich wohl als Barmherzigkeit Gottes bezeichnen.
"In der Moschee sagen sie: Tod Amerika. Tod Israel. Aber Jesus war gut, er sprach von Liebe." Shapouri wollte frei über ihren Glauben entscheiden. An ein Leben außer Landes, beteuert sie, habe sie damals nicht gedacht.
Kirchenasyl bewahrte Shapouri vor der Ausweisung
Eines Tages, die Familie war außer Haus, habe ihre Mutter sie angerufen: Die Polizei durchsuche gerade ihre Wohnung. Hals über Kopf hätten sie sich zur Flucht entschlossen, sagt Shapouri. Bis zur Abreise seien sie bei Bekannten untergetaucht. Es gab kein Zurück.
Das Kirchenasyl bewahrte sie und ihre Familie davor, aus Deutschland ausgewiesen zu werden. Keine Frage, die Zeit damals zerrte an ihren Nerven. Wenn sie am Fenster des Pfarrhauses stand und einen Helikopter am Himmel sah, dachte sie, man suche nach ihnen.
Aber das ist Vergangenheit. In der Wohnung, in der sie heute leben, geht Shapouri mit ihrer Familie nach Belieben ein und aus. In den drei Jahren, die seit dem Kirchenasyl vergangen sind, hat die Familie im Rhein-Neckar-Raum Fuß gefasst. Shapouri und ihr Mann arbeiten daran, sich eine Existenz aufzubauen, und sie hoffen, dauerhaft bleiben zu können.
Die Zerreißprobe ist dennoch nicht ganz ausgestanden. Shapouris Familie wartet auf die Verlängerung ihrer Aufenthaltsgenehmigung. In diesen Tagen müsste sie kommen.