domradio.de: Etwa 140 jungen Menschen sollen nach der Radikalisierung durch die "Lies!"-Aktion in die Kampfgebiete des IS ausgereist sein. Was macht die Vereinigung "Die wahre Religion" so anziehend für junge Leute?
Dr. Thomas Lemmen (Referent für Interreligiösen Dialog, Erzbistum Köln): Ich glaube, man muss zwischen der Koran-Verteilaktion und der Radikalisierung von Jugendlichen unterscheiden. Die Koran-Verteilaktion ist eine Öffentlichkeitskampagne, die darauf gerichtet ist, das Anliegen dieser Gruppierung unter die Leute zu bringen. Und das zweite ist, dass Leute dafür gewonnen wurden, sich für diese Organisation einzusetzen. Mit anderen Worten: Das Verteilen des Korans an sich ist nicht das Problematische. Sondern problematisch ist, dass damit gleichsam der Einstieg in eine Organisation vollzogen werden kann, die langfristig zu einer Radikalisierung führt.
domradio.de: Wie hat es die Organisation "Die wahre Religion" geschafft, junge Menschen zu radikalisieren und dazu zu bringen, in die IS-Kampfgebiete auszureisen?
Lemmen: Ich denke, es gibt Menschen, die aufgrund persönlicher Probleme und Fragestellungen für extremistische Ideologien anfällig sind und sehr leicht die Beute von Rattenfängern werden können - ob links- oder rechtsextremistisch oder islamistisch. Sie sind leichte Beute für Menschen, die mit einem Schwarz-Weiß-Denken daherkommen und ihnen die Welt in Gut und Böse erklären. Wenn die Menschen, die gewonnen werden sollen, einen religiösen Hintergrund haben und ihre Religiösität aber diffus ist, dann können islamistische Extremisten dort leicht anknüpfen.
domradio.de: Sie führen viele Gespräche mit muslimischen Verbänden. Wie stehen die zu einer solchen Vereinigung, die Demokratie und Andersgläubige ja im Grunde ablehnt?
Lemmen: Die islamischen Verbände sind kritisch-distaniziert gegenüber der Koranverteilaktion "Lies!" Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, hat gesagt, man dürfe den Koran nicht so verscherbeln. Ihn also nicht einfach auf der Straße unter die Leute bringen, weil viele ihn natürlich gleich wieder wegwerfen. Und er sagt, es sei nicht gut, mit dem Wichtigsten, das man als Muslim hat, so umzugehen. Man muss aber auch sagen, dass sich der etablierte Islam - sprich: die Verbände - nicht immer ganz leicht damit tut, sich mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Das hat damit zu tun, dass die Salafisten den Leuten auf den Mund schauen und die Sprache der jungen Leute sprechen. Die Verbände befinden sich oftmals in einem anderen Level der Auseinandersetzung. Es ist also nicht ganz einfach, Extremisten Paroli zu bieten. Die Imane in den Moscheen erreichen in ihren Predigten die, die dorthin kommen. Das sind in der Regel, in den meisten Moscheen, keine Extremisten.
domradio.de: Gibt es vielleicht sogar Aktionen von Muslimen, mit denen sie eine Radikalisierung ihrer Glaubensgeschwister verhindern wollen?
Lemmen: Es gibt eine ganze Reihe solcher Initiativen, beispielsweise das Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen in Köln-Ehrenfeld. Dort wird versucht, durch Bildung Wissen zu vermitteln und Menschen Perspektiven für eine andere, eine islamische und mit den Gesetzen konforme Lebensweise zu vermitteln. Die Initiative 180-Grad-Wende - eine Initiative junger Muslime aus Köln - versucht, andere junge Muslime davon abzuhalten, zu Salafisten zu gehen.
domradio.de: Die Verteilaktion und auch die Vereinigung selbst sind jetzt offiziell verboten. Meinen Sie, dass damit etwas erreicht werden kann?
Lemmen: Es gibt ja eine Geschichte von Vereinsverboten. Man weiß, dass ein Verein, der verboten wird, in die Niederlande oder nach Belgien geht und von dort weiter operiert. Das Problem ist darüber hinaus, dass die salafistische Szene nicht in Vereinen organisiert, sondern ein Netzwerk von Personen ist. Die operieren über die sozialen Netzwerke und das Internet im Allgemeinen. Wenn ein Internetserver auf den Bahamas liegt, kommt man mit einem Vereinsverbot nicht besonders weit. Das heißt, dass man schauen muss, wie weit die salafistischen Strukturen durch das Vereinsverbot getroffen werden.
Das Interview führte Milena Furman.