Islamexperte sieht Dialog mit einer Religion im Aufbruch

"Der Islam steht vor einer Aufklärung"

Der Islamwissenschaftler Christian Troll glaubt, dass der Brückenschlag zum Islam als große Leistung des Papstes in die Geschichte eingehen wird. Er ist außerdem der Meinung, dass die Religionen einiges voneinander lernen können.

Autor/in:
Christoph Schmidt
Christian Troll, Islamwissenschaftler und Jesuit / © Christian Ender (KNA)
Christian Troll, Islamwissenschaftler und Jesuit / © Christian Ender ( KNA )

KNA: Die islamische Welt haben Sie jahrzehntelang bereist, dort gelebt und gelehrt. Heute ist der Islam Europa näher denn je. Aber mit welchem Islam haben wir es zu tun?

Prof. em. Dr. Christian Troll (Islamwissenschaftler und Jesuit): Die soziale, politische und religiöse Entwicklung der islamischen Länder wird das Leben der Europäer immer mehr beeinflussen. Zugleich verändern sich aber auch die Muslime. Der Islam wird im Westen oft als starres Gebilde gesehen, mit fließenden Übergängen zum Islamismus. Aber im Zeitalter der Migration und angesichts der Tatsache, dass mehr und mehr Muslime in Minderheitssituationen leben, spüren ganz viele von ihnen, dass sie sich anpassen müssen, dass Dialog ihren Glauben bereichert und das Ziel der Islamisten, die ganze Welt quasi in ein einziges Medina zu verwandeln, weder realistisch noch erstrebenswert ist.

KNA: Sie meinen die Idealisierung der Urgemeinde, die Mohammed nach seiner Auswanderung von Mekka nach Medina im Jahr 622 geschaffen hat und von den Fundamentalisten als Modell für einen Gottesstaat gepriesen wird...

Troll: Für eine beträchtliche Zahl von Muslimen ist die politische und rechtliche Ordnung von Medina etwas Historisches, nicht der Kern ihres Glaubens. Ihnen ist klar, dass die zentralen Botschaften des Islam eher in den mekkanischen Koransuren zu finden sind: der Glaube an den einen Gott und seine Barmherzigkeit; der Aufruf zu einem ethischen und moralischen Lebenswandel; die Überzeugung, dass man vor Gott Rechenschaft für seine Taten ablegen muss. Das sind Botschaften, die den Islam mit dem Christentum verbinden. Wo immer ich mit Muslimen tiefer ins Gespräch kam, ging es ihnen primär um diese Glaubensinhalte, nicht um die Wiedergeburt Medinas.

Christian Troll, Islamwissenschaftler und Jesuit

"Der vertiefte Brückenschlag zum Islam wird als eine der ganz großen Leistungen von Franziskus' Pontifikat in die Geschichte eingehen"

KNA: Der christlich-islamische Dialog ist Ihr Lebensthema. Franziskus engagiert sich dafür mehr als jeder Papst vor ihm. Wie bewerten Sie seine Initiativen?

Troll: Seine Begegnung mit dem Großimam der Kairoer Azhar-Universität, Ahmed al-Tayyeb, in Abu Dhabi 2019 und ihre Unterzeichnung eines gemeinsamen «Dokuments für die Geschwisterlichkeit aller Menschen» war ein umwerfender Moment für mich. Das Dokument besagt, dass wir alle Geschöpfe des barmherzigen Gottes sind und die Religionen gemeinsam den Frieden und die Gerechtigkeit für die Menschheit fördern müssen. Das ist gerade auch von den Muslimen ein großes Zeichen, das ich für aufrichtig halte.

Leider wird das Dokument von Politikern kaum wahrgenommen und seine Kraft für den Dialog zwischen dem Westen und der islamischen Welt wenig genutzt. Das ändert aber nichts daran, dass Franziskus und Al-Tayyeb dem interreligiösen Austausch eine ganz neue Dynamik verschafft haben. Die spürte man auch bei den Papstreisen in den Irak letztes Jahr und Anfang November nach Bahrain wieder ganz deutlich. Der vertiefte Brückenschlag zum Islam wird als eine der ganz großen Leistungen von Franziskus' Pontifikat in die Geschichte eingehen.

KNA: Kritiker werfen dem christlich-muslimischen Dialog vor, er komme über wohlfeile Appelle an die gemeinsame Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit nicht hinaus und scheitere letztlich an seinen theologischen Widersprüchen.

Troll: Das Bekenntnis zu einer gerechten und friedlichen Welt würde ich nicht gering schätzen. Wenn man sich hierin einig ist und die Religionsführer ihre Gläubigen dahin beeinflussen, hat der Dialog schon viel bewirkt. Man kann auch die theologischen Gemeinsamkeiten betonen, ohne die Unterschiede zu übersehen, und stößt oft auf verblüffende Zeichen der Annäherung. Denken Sie an den großen islamischen Gelehrten Al-Ghazali (gest. 1111), der es durchaus für möglich hielt, dass auch Christen und Juden ins Paradies gelangen können, wenn sie aufrichtig und Gott ergeben gelebt haben. Gegenüber Vielgötterei und Atheismus urteilt der Islam allerdings streng.

Christian Troll, Islamwissenschaftler und Jesuit

"Die Ansicht, dass wir keinem Gott gegenüber verantwortlich sind, ist die Krankheit unserer Zeit"

KNA: Was können Christen von Muslimen lernen und umgekehrt?

Troll: Bei gläubigen Muslimen beeindruckte mich immer ihre Gottesfurcht, solange sie nicht knechtisch verstanden wird. Muslime haben ein starkes Gefühl dafür, dass wir nicht von uns selbst kommen, sondern etwas über uns existiert. Die Ansicht, dass wir keinem Gott gegenüber verantwortlich sind, ist die Krankheit unserer Zeit.

Umgekehrt stellt das gemeinsame Dokument von Abu Dhabi fest, dass Muslime vom christlich geprägten Westen viel darüber lernen können, wie man Konflikte und Spaltungen überwindet und sich für die Menschenrechte und die moderne Wissenschaft öffnet.

KNA: Das stellt die Frage nach der Aufklärung, die es im Islam niemals gegeben hat.

Troll: Ich glaube, sie ist in vollem Gange. Auch konservative Gelehrte wie der Papstfreund Ahmed al-Tayyeb öffnen sich ja schon für Ideen der Toleranz und Glaubensfreiheit. Man muss die Beweglichkeit des islamischen Denkens anerkennen und den großen Wandel, der sich gerade vollzieht, auch durch das Internet, den globalen Austausch.

Die gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Krise in den islamischen Ländern ist ein starker Antrieb, nicht nur für Intellektuelle und Religionsgelehrte, um religiöse Traditionen und problematische, sekundäre Regeln etwa der Scharia in Frage zu stellen.

Da sehe ich übrigens auch wichtige Impulse durch den Ausbau der islamischen Theologie an europäischen und deutschen Universitäten. Hier herrscht ein Klima der Meinungs- und Debattenfreiheit - offenen Diskussionen können muslimische Gelehrte hier nicht ausweichen und müssen sie aushalten. Diese Lehrstätten bilden auch ein Gegengewicht zu den engstirnigen unter den Moscheevereinen hierzulande, die eher Parallelgesellschaften fördern als eine geistige Öffnung des Islam.

Deutschland und der Islam

Gehört der Islam zu Deutschland? Seit mehreren Jahren gibt es kontroverse Diskussionen über diese Frage. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) dokumentiert einige Etappen:

2006: Auf Initiative von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) tritt am 27. September in Berlin zum ersten Mal die Islamkonferenz zusammen. Ziel ist eine bessere Integration von rund vier Millionen Muslimen in Deutschland. Schäuble sagt zum Auftakt: "Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart und Teil unserer Zukunft."

Islam in Deutschland / © Boris Roessler (dpa)
Islam in Deutschland / © Boris Roessler ( dpa )
Quelle:
KNA