Ein Kirchenfürst ist der Kardinal nicht. An manchen Tagen knattert Francesco Montenegro auf einer schlichten Vespa über die geflickten Straßen an der Südküste Siziliens. Hinterm Horizont liegt schon Afrika, dazwischen mitten im azurblauen Meer Lampedusa – die Insel, die durch tote Bootsflüchtlinge traurige Berühmtheit erlangt hat. Vor zahlreichen angeschwemmten Leichen hat der Erzbischof das letzte Gebet gesprochen. Ihre Würde soll nicht auch noch untergehen.
Sachlich und eindringlich zugleich beschreibt der 71-Jährige die größte Katastrophe mit hunderten Toten. Einigen habe noch ein Kreuz oder Medaillon im Mund gesteckt. "Wenn Sie vor 366 Särgen stehen, brauchen Sie vor allem eines: viel Zeit." Doch den kleinen, stämmigen Mann stößt so schnell nichts um. Und so nimmt er sich auch Zeit für Geflüchtete, die lebend das scheinbar sichere Ufer erreichen.
Sein Kardinalstitel ist ein Zeichen von Franziskus
Montenegro wirkt eher wie ein Landpfarrer im besten Sinne denn als vornehme Eminenz. Herzlich, bodenständig, ruhig. Kein Brustkreuz aus Gold, sondern seit gut 15 Jahren eines aus schlichtem Holz. Dass er 2015 überhaupt Kardinal und damit zu einem der höchsten katholischen Würdenträger wurde, kam für Beobachter so überraschend wie bisweilen die sprühende Lava aus dem Ätna. Denn normalerweise zählen die Erzbischöfe von Agrigent nicht zu den Anwärtern auf den Kardinalstitel. Papst Franziskus wollte wohl ein Zeichen setzen: Zu Montenegros Erzbistum gehört Lampedusa, und der Mann selbst ist seit langem einer der engagiertesten kirchlichen Fürsprecher von Migranten – vereinfacht gesagt also: Kardinal der Flüchtlinge.
Im vergangenen Jahr ließen sich die deutschen Bischöfe von ihm aus erster Hand informieren. Als Franziskus gleich zu Beginn seiner Amtszeit 2013 die "Flüchtlingsinsel" vor Sizilien besuchte, begleitete Montenegro ihn. Auch in der kleinen Gruppe beim Totengedenken auf dem Wasser. Mehrfach bezeichnete der Erzbischof das Mittelmeer als "großes flüssiges Grab". Dann klingt seine Stimme noch ruhiger und noch leiser. Beherzt stellt sich der Kirchenmann hinter die Arbeit von Seenotrettern, für die Rom erst kürzlich die Auflagen verschärft hat.
Alle Helfer verdienten Respekt und keine Vorwürfe
Auch außerhalb Italiens gab es zuletzt Vorwürfe, sie arbeiteten Hand in Hand mit organisierten Schlepperbanden. Dagegen betont Montenegro ohne Wenn und Aber: "Leben zu retten, ist eine Pflicht von allen. Ein Zurückschicken ist keine Lösung." Für ihren mitunter riskanten Einsatz verdienten viele Nichtregierungsorganisationen großen Respekt - und falls es vereinzelt Missbrauch gebe, müsse das untersucht und bestraft werden. Geradezu ins Schwärmen gerät der Kardinal mit sizilianischem Blut in den Adern, wenn er die Willkommensgesten in vielen Dörfern beschreibt: "Die Bewohner zeigen, dass Gastfreundschaft möglich ist." In den Straßen versorgten ältere Frauen Flüchtlinge immer wieder mit frischem Kaffee, andere gäben ihnen fast ihr letztes Hemd.
Kardinal fordert mehr von der EU und kämpft gegen die Mafia
Der Erzbischof schätzt jedoch nicht nur gelebte Nächstenliebe, sondern auch klare Worte in Richtung Politik. So rief er die EU wiederholt auf, mehr für Flüchtlinge zu tun. Nicht von ungefähr ist er Präsident von Caritas Italien und hinterlässt an vielen Stellen Eindruck. Als die italienischen Bischöfe im Frühjahr ihren Vorsitzenden wählten, landete Montenegro weit vorne auf Platz drei.
Aufsehen erregte er auch, weil er 2012 einem bekannten Mafiaboss das kirchliche Begräbnis verweigerte. Für die damalige "Nummer zwei" der Cosa Nostra in der Provinzstadt Siculiana durfte nur ein Totengebet gehalten werden – Medienberichten zufolge auf Anweisung des Erzbischofs.
Zweifelsohne existiert eine Art Seelenverwandtschaft zwischen "Don Francesco" und Papst Franziskus. Dessen Appelle, an die Ränder zu gehen, sind dem Erzbischof alles andere als fremd. Schon mehrmals hat er Ostern, das höchste Kirchenfest, auf Lampedusa gefeiert. Die Menschen dort brauchten Hilfe, Nähe und Mitgefühl, sagt Montenegro dazu kurz und knapp. Sein bischöflicher Wahlspruch lautet übrigens "caritas sine modo", frei übersetzt: "bedingungslose Liebe".