Gloria Muth ist an diesem Wochenende aus zwei Gründen nach Köln gekommen: Um Freunde aus der katholischen Bewegung "Comunione e Liberazione" (deutsch: "Gemeinschaft und Befreiung") zu treffen und sich mit aktuellen Fragen aus Gesellschaft und Glaube auseinanderzusetzen. Das jährliche Rhein-Meeting, das von Freitag bis Sonntag im Maternushaus des Erzbistums Köln stattgefunden hat, bot der Studentin aus München die Chance, beide Anliegen miteinander zu verbinden.

"Deshalb bin ich trotz eines vollen Terminkalenders gerne nach Köln gefahren", so Muth. Besonders der diesjährige thematische Schwerpunkt des Rhein-Meetings hat die 25-Jährige interessiert: das Leben des österreichischen Seligen Franz Jägerstätter.
"Ich habe mit Freunden den Film 'Ein verborgenes Leben' des Regisseurs Terrence Malick über Jägerstätter gesehen – da wollte ich mehr wissen", sagt Muth.
Beweggründe einer jungen Teilnehmerin
Das Treffen in Köln hat dem christlichen Märtyrer, der 1943 wegen seiner Weigerung zum Dienst in der deutschen Wehrmacht von den Nationalsozialisten getötet wurde, eines seiner vier Podiumsveranstaltungen gewidmet. Dort diskutierten die Theologin und Jägerstätter-Biografin Erna Putz sowie der zu "Comunione e Liberazione" gehörende römische Priester Emmanuele Silanos über den Seligen aus Österreich.
Beide stellten vor allem die persönliche Entwicklung heraus, die Jägerstätter im Laufe seines Lebens durchgemacht hat: Als junger Mann begeisterte sich der Landwirt vor allem fürs Feiern, schnelle Motorräder und war ein Frauenheld. Aus der Beziehung mit einer Magd hatte er zudem ein uneheliches Kind. Durch seine spätere Frau Franziska reifte Jägerstätter jedoch spirituell. "Wir haben einer dem anderen im Glauben weitergeholfen", zitierte Putz Franziska Jägerstätter.
Vom Lebemann zum Glaubenszeugen
Gleichzeitig sei der Märtyrer ein für die Kirche unbequemes Vorbild im Glauben, so Silanos. Denn Jägerstätter habe sich seinem Ortsbischof widersetzt, der ihn dazu überreden wollte, seinen Wehrdienst anzutreten. Die Österreichische Bischofskonferenz habe den Katholiken in der damaligen Situation empfohlen, mit den Nationalsozialisten zu kooperieren. "Dadurch zeigt ein einfacher Gläubiger, dass Priester, Bischöfe und Bischofskonferenzen mit ihrer jeweiligen Meinung auch irren können." Jägerstätter habe sich jedoch Papst Pius XI. verpflichtet gefühlt, der während seines Pontifikates eindringlich vor dem Faschismus gewarnt hatte.
Silanos wurde während der Corona-Pandemie durch den 2019 veröffentlichten Film von Malick auf den Lebensweg Jägerstätters aufmerksam. Der Priester war sofort vom festen Willen des Landwirts fasziniert. Er besuchte Jägerstätters Geburtsort St. Radegund in Österreich und entwickelte daraufhin eine Ausstellung mit Schautafeln über den Märtyrer und seine Frau – der Titel: "Franz und Franziska. Es gibt keine größere Liebe".
Ein unbequemes kirchliches Vorbild
Diese Ausstellung wurde während des Rhein-Meetings im Foyer des Maternushauses gezeigt. Silanos und andere haben Führungen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene angeboten, um ihnen das Leben des Ehepaars Jägerstätter näherzubringen. Bewusst hat der italienische Priester beide Ehepartner in den Mittelpunkt gestellt: "Denn ohne die Unterstützung Franziskas hätte Franz seinen Weg nicht gehen können."
Mit Blick auf das Leben Jägerstätters scheint das Motto des diesjährigen Rhein-Meetings mehr als passend: "Versuche in der Wahrheit zu leben". Diese Anspielung auf den Titel eines Buchs des tschechischen Menschenrechtlers und Politikers Václav Havel diente auch als Klammer für die weiteren Referenten der Veranstaltung: Die russische Literaturwissenschaftlerin Irina Scherbakowa berichtete von der Arbeit der Organisation Memorial, die wegen ihres Einsatzes für die Opfer der Sowjetdiktatur 2022 mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde; Anna Maria Jalalifar und Manuel Baghdi aus Wien gaben Einblick in die Schicksale christlicher Konvertiten im Nahen Osten; und der zur Bewegung gehörende emeritierte Bischof Massimo Camisasca stellte das Leben des "Comunione e Liberazione"-Gründers Don Luigi Giussani in den Mittelpunkt seiner Ausführungen.
Ausstellung über eine besondere Liebesgeschichte
Das Rhein-Meeting, das in diesem Jahr zum zehnten Mal stattfindet, ist eng mit der aus Italien stammenden Bewegung verbunden, aber offen für alle Interessierten, betonte Pater Gianluca Carlin. Der promovierte Theologe gehört der Priesterbruderschaft des heiligen Karl Borromäus an, die im Umfeld von "Comunione e Liberazione" verortet ist. "Mit dem Rhein-Meeting wollen wir zeigen, was uns als Bewegung ausmacht", so Carlin, der als Pfarrer die Kirchengemeinde in Bonn-Bad Godesberg leitet. "Uns charakterisiert, dass wir den Glauben im Alltag leben wollen und das in Gemeinschaft tun."

Die Mitglieder der Bewegung, die 1954 vom Schulseelsorger Giussani in Mailand gegründet wurde, hätten es sich zur Aufgabe gemacht, sich neben dem Glauben auch mit gesellschaftlichen Fragen zu beschäftigen und an sich selbst durch Bildung zu arbeiten. "Dieses Charisma erkennt man an den diesjährigen Themen des Rhein-Meetings, die allesamt einen Bezug zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen haben", so der 56-jährige Carlin.
Glaube im Alltag verwirklichen
Das Treffen in Köln war für die Mitglieder der Bewegung auch so etwas wie ein Familientreffen, das gaben Carlin und auch Muth zu, die durch ihre Eltern in "Comunione e Liberazione" hineingewachsen ist. Deshalb gehörten für die etwa 350 Teilnehmer des Rhein-Meetings auch ein gemeinsames Essen und eine Messfeier mit Kardinal Rainer Maria Woelki zum Rahmenprogramm. Der Kölner Erzbischof ist neben dem Europäischen Parlament der Schirmherr des Treffens. Die starke italienische Prägung der Bewegung zeigte sich auch daran, dass für die Podiumsveranstaltungen im Maternushaus Simultanübersetzungen ins Italienische angeboten werden.
Da es keine offizielle Mitgliedschaft bei "Comunione e Liberazione" gibt, lässt sich ihre Größe nur annähernd schätzen. Nach eigenen Angaben sollen weltweit 150.000 Menschen in der Bewegung organisiert sein. In Deutschland sind das Rheinland und Süddeutschland die Zentren.
Familiäres Treffen mit italienischer Prägung
Aus Anlass des hundertsten Geburtstages von Giussani vor drei Jahren dankte Papst Franziskus der geistlichen Gemeinschaft für ihr Wirken in mehr als 90 Ländern. Gleichzeitig rief er die Bewegung dazu auf, interne Spannungen zu lösen. Zuvor hatte es auf Druck des Vatikan einen Wechsel in der Leitung von "Comunione e Liberazione" gegeben.
Beim diesjährigen Rhein-Meeting war davon nichts zu spüren. Die Gemeinschaft untereinander und die Beschäftigung mit drängenden Fragen in Kirche und Gesellschaft standen im Fokus. Für Carlin gehört beides untrennbar zusammen: "Die gegenseitige Freundschaft macht die Beschäftigung mit diesen Themen fruchtbar und schöner."
Den Pfarrer freut, dass in diesem Jahr mehr Menschen zum Rhein-Meeting gekommen sind als im vergangenen Jahr: "Das ist ein Ansporn für die schon bald anstehenden Planungen für das nächste Treffen."