Von der Palmprozession den Ölberg hinunter über die Nachtwache im Garten Gethsemane bis zum Kreuzweg durch die engen Altstadtgassen Jerusalems: Ostern am historischen Ort seines Geschehens ist ein intensives, mitunter dramatisches Erlebnis. Wenig jedoch fasziniert und befremdet den westlichen Besucher so sehr wie eine kleine Veranstaltung am Karfreitag. In der Grabeskirche inszenieren die Franziskaner jedes Jahr die Beerdigung Christi. Das Mysterienspiel mit einem fast lebensgroßen Holzjesus in der Hauptrolle folgt einer jahrhundertealten Tradition.
Eng ist es im Halbdunkel der Grabeskirche. Hunderte Ordensleute und Pilger drängen sich zu später Stunde die steile Treppe rechts neben der schweren Eingangstür hinauf. Im hinteren Teil, auf der Seite der Franziskanerkapelle, formiert sich die Prozession. "Miserere mei Deus, Gott, sei mir gnädig nach deiner Huld", erklingt der Bußpsalm, "wasch meine Schuld von mir ab und mach mich rein von meiner Sünde".
Im Zentrum der Menge steht das Kreuz, an ihm, mit Nägeln durch Hände und Füße und einer Dornenkrone auf dem Haupt: der geschundene hölzerne Körper. Von der Sakramentskapelle aus setzt sich die Menge in Bewegung.
Prozessionsweg mit Jesu Leidensstationen
Wieder und wieder werden auf dem Prozessionsweg durch die Kirche Jesu Leidensstationen verlesen. Das Letzte Abendmahl, die Verhaftung, die Verurteilung, nach den Berichten von Matthäus, Markus und Lukas, in verschiedenen Sprachen. Evangelist Johannes bekommt als letzter das Wort. "Er trug sein Kreuz und ging hinaus zur sogenannten Schädelhöhe, die auf Hebräisch Golgota heißt. Dort kreuzigten sie ihn und mit ihm zwei andere, auf jeder Seite einen, in der Mitte Jesus." In der nachgestellten Szene ist Jesus allein. Am Kreuz hängt er bereits auf dem Weg nach Golgota.
Es ist still in der betenden Menge, als Franziskanerbrüder dem hölzernen Gekreuzigten die Dornenkrone abnehmen und die Nägel entfernen. Das Klopfen der Werkzeuge auf dem Holz durchdringt den schwach beleuchteten Raum. Nagel für Nagel wird herausgezogen, der Menge entgegengehalten und schließlich zur Dornenkrone auf ein silbernes Tablett gelegt. Langsam, gesichert durch ein weißes Leintuch, gleitet der von den Nägeln befreite Körper mit den beweglichen Armen vom Kreuz. Die Stille hält an. Über steile Stufen, gefolgt von den Marterwerkzeugen auf dem Silbertablett, entschwebt der Holzjesus der Menge, um auf dem Salbstein im Eingangsbereich der Kirche aufgebahrt zu werden - ganz so, wie es das griechische Wandmosaik im Hintergrund darstellt.
Vom obersten Franziskaner mit Duftölen besprengt, macht sich der hölzerne Jesus auf den Weg zur vorerst letzten Station: die Grabkapelle, in der er symbolisch bestattet wird. Den Gläubigen bleibt, ein paar Tropfen des verbliebenen Salböls zu erhaschen und jene Steine zu berühren, auf denen der stellvertretende Leichnam Jesu erst vor wenigen Momenten in sein Leichentuch gewickelt wurde.
Traditionen in vielen Ländern
Passionsspiele haben Tradition in vielen Ländern. Doch nur in Jerusalem geschieht die Re-Inszenierung des Leidens und Sterbens Jesu sowie der Stunden nach seinem Tod in historischer Kulisse: auf dem Golgotafelsen, dem Ort, an dem nach biblischen Überlieferungen und jahrtausendealter Tradition das Kreuz Jesu und seiner Leidensgenossen stand. Auf dem Salbstein, dessen eigentliches Alter auf weit nach Jesu Tod geschätzt werden darf, und schließlich auf jener Grablege, deren Leere den Ostermorgen markiert.
Schweigend löst sich die Menge auf in die Nacht. Die schweren Türen der Grabeskirche schließen sich hinter den Gläubigen. Symbolisch liegt für diese eine Nacht der hölzerne Jesus wieder in seinem Grab - bis sich wenige Stunden später, am frühen Samstagmorgen, die Türen erneut öffnen und in der katholischen Ostervigil Osterkerze, Orgelklang und Glocken verkünden: Das Grab ist leer.