KNA: Patriarch Twal, wie beurteilt - mit ein wenig Abstand - die Ortskirche den Vorfall in den Gewässern vor dem Gazastreifen?
Twal: Es hat wenig Sinn, den vielen Verurteilungen des israelischen Vorgehens noch eine weitere hinzuzufügen. Was die Israelis jetzt brauchen, ist ein Moment des Innehaltens: Sie müssen überlegen, was ihrem Wohl und ihren Interessen wirklich dient. Und sie müssen sich die Zeit nehmen, die Folgen ihrer Handlungen abzuwägen. Solche Dinge darf man nicht der Willkür einer militärischen Option überlassen.
Ansonsten kommt es zu so unbedachten Aktionen wie diesem kopflosen Angriff auf die «Solidaritätsflotte» mit Toten und Verletzten, und das auch noch in internationalem Gewässer. Ich frage mich tatsächlich, wo wir hier sind. Da fehlt doch jegliches Gespür für das Maß.
KNA: Wer durch den Vorfall verloren hat, scheint klar. Gibt es auch Gewinner?
Twal: Meine Befürchtung ist, dass die Radikalen auf beiden Seiten gewinnen. Die Gemäßigten, um Ausgleich Bemühten finden immer weniger Gehör; da sind wir längst vom guten Weg abgewichen. Darum sollten wir uns nun dringend zusammensetzen: Israelis, Palästinenser und unsere Freunde im Ausland - und uns überlegen, wie wir eine gemeinsame Zukunft aufbauen können. Israel will Frieden und Sicherheit, das ist sein gutes Recht. Was müssen wir also säen, um Frieden und Sicherheit zu ernten? Doch sicher nicht Gewalt; dadurch ernten wir nur weitere Gewalt. Stattdessen frage ich mich, was so schädlich daran gewesen wäre, Schiffe mit Lebensmitteln und Medikamenten an Bord zu Not leidenden Menschen durchzulassen. Wäre das nicht eher eine Geste des Friedens gewesen?
KNA: Also keine Diskussion um Details, sondern lieber die großen Linien überdenken?
Twal: Genau. Ich habe Schlagzeilen in israelischen Zeitungen gesehen, die besagten, der größte Feind Israels sei die aktuelle israelische Politik. Dieser Ansicht bin ich auch. Wir brauchen dringend ein Umdenken in der ganzen politischen Landschaft.
KNA: Ägypten und Israel haben aufgrund der aktuellen internationalen Empörung einzelne Grenzübergänge zum Gazastreifen teilweise geöffnet, etwa für Lebensmittel, Medikamente oder Patienten. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?
Twal: Es sollten alle Grenzübergänge Tag und Nacht für Gesunde und Kranke geöffnet werden. Die Menschen in Gaza versorgen sich seit drei Jahren wie die Ratten durch Tunnels. Offen gestanden bewundere ich ihren Lebenswillen. Man hat ihnen alle Öffnungen zur Außenwelt zugesperrt und lässt gnädig nur das Lebensnotwendigste durch - wenn sie Glück haben. Darum haben sie die Tunnel gegraben. Aber drei Jahre zu leben wie die Ratten, ist lang genug. Jetzt sollte man endlich die Türen, die Fenster, die Herzen und die Köpfe öffnen. Man sollte Gesten des Friedens und des Vertrauens setzen. Um in Frieden leben zu können, müssen wir den Hass und die Rache eindämmen und dem Vertrauen Raum geben.
KNA: Allerdings fürchtet Israel, durch offene Grenzen könnte das Land auch von Terroristen überschwemmt werden.
Twal: Das kann wahr sein oder auch ein Vorwand. Ich glaube nicht, dass alle Kinder und Frauen im Gazastreifen Terroristen sind. Auch nicht jene, die zum Arzt oder zur Universität wollen, die zur Kirche zum Beten gehen. Um der Liebe Gottes Willen, das sind doch nicht alles Terroristen! Wir sagen ja auch nicht, dass alle Israelis Terroristen seien, nur weil ein Israeli Jitzak Rabin umgebracht hat.
Natürlich gibt es sowohl unter Israelis als auch unter Arabern oder Afrikanern Wahnsinnige. So ist der Mensch. Wir müssen uns darum überlegen, was wir tun können, um solche Strömungen einzudämmen - wie wir die Ursachen dafür beseitigen können.
Interview: Gabi Fröhlich
Jerusalemer Patriarch fordert Umdenken in der Gaza-Politik
"Sie leben wie die Ratten"
Nach der gewaltsamen Erstürmung der sogenannten Solidaritätsflotte vor dem Gazastreifen durch Militärs lässt die internationale Kritik am israelischen Vorgehen nicht nach. Der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Fouad Twal, fordert in der Kontroverse zum Innehalten und Nachdenken auf.
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