David Neuhaus kam mit 15 Jahren nach Jerusalem; damals als "säkularer jüdischer Schüler". 45 Jahre später verlässt er eine Stadt, von der er sagt, sie sei "ein integraler Bestandteil meiner Person geworden". Der katholische Priester und Jesuit kehrt zurück in sein Geburtsland Südafrika. Ein KNA-Gespräch über Jerusalem, wie es war und wie es sein könnte:
KNA: Pater David Neuhaus, wie hat sich Jerusalem in 45 Jahren verändert?
David Neuhaus: Zu den traurigen Veränderungen gehört, wie die Stadt zu dieser riesigen, fast charakterlosen Ansammlung von Vierteln geworden ist. Jerusalem fühlte sich damals kompakter und überschaubarer an als heute. Ein Ring aus gesichtslosen Vierteln schnürt das Jerusalem ab, das ich liebe: das historische, spirituelle Zentrum.
KNA: Hat sich das Zusammenleben verändert?
Neuhaus: Ich würde nicht romantisch sagen, dass die Menschen vor 45 Jahren gut miteinander auskamen und Extremismus sie auseinandergerissen hat. Jerusalem bestand selbst damals aus Welten, die nebeneinander lebten. Aber der Mangel an Kontakten ist brutaler geworden. Nicht nur, dass man den anderen nicht kennen will; man wünscht sich, dass er gar nicht da wäre. Es gibt weiterhin einen kleinen Kreis von Menschen, die mit Respekt, Wertschätzung und Liebe auf alle Teile Jerusalems blicken; aber jene, die die Vielfalt untergraben wollen, tun dies mit viel effektiverer Gewalt.
Jerusalem scheint nach Luft zu schnappen und viel mehr zu ringen, als ich es von einst in Erinnerung habe – und auch da war es kein Paradies. Wird Jerusalem überleben? Dessen bin ich mir aus meinem Glauben heraus sicher. Gott wird nicht zulassen, dass Jerusalem an dieser Weigerung erstickt, der Nachbar eines anderen zu sein. Aber wir befinden uns in schwierigen Zeiten.
KNA: Wie hat sich Pater David in 45 Jahren verändert?
Neuhaus: Es gibt den positiven Vektor der Entschlossenheit, ganz Jerusalem kennenzulernen, und die Verpflichtung, jeden Aspekt der Stadt zu lieben. Als ich mit 15 Jahren als jüdisches Schulkind in die Stadt des jüdischen Traums kam, war mir sehr bewusst, dass wir einer Gehirnwäsche unterzogen wurden. Ich verließ dieses kleine Ghetto mit einer vagen Vorstellung, welche Welten es in Jerusalem zu entdecken gibt. Ich bin verzaubert von der Tatsache, dass ich immer noch Welten entdecken kann, die ich nicht kenne. 45 Jahre später sage ich: Jerusalem ist ein integraler Bestandteil meiner Person geworden; eine Art Matrix, in der ich atme.
Es gibt aber auch einen parallelen Vektor. In ihm wächst die Verzweiflung, dass so viele Menschen die Stadt nach ihrem Geschmack formen wollen und so viele Gemeinschaften die Anwesenheit der Gemeinschaft nebenan nicht feiern. Ich brauche eine Auszeit, damit ich nicht verbittere. Ich muss weggehen, um etwas anderes zu erleben und erfrischt zurückzukommen. So hoffe ich, ein Jerusalemer zu sein, der Jerusalem so bewahren will, wie es ist, mit all seinen Merkmalen.
KNA: Sie werden also wiederkommen?
Neuhaus: Ich lasse all meine Bücher hier; das einzige, das ich wirklich besitze. Ich weiß, dass Jerusalem das Zentrum meiner Orientierung und meiner Welt bleiben wird. Das lässt mich sicher sein, dass ich wiederkommen werde.
KNA: Kritiker mahnen, eine immer größere Rolle von Religion in der israelischen Politik gefährde das Konzept einer liberalen Demokratie. Ist es Zeit für eine Trennung von Religion und Staat?
Neuhaus: Ich möchte mit der Grundannahme brechen, dass ich mich mit der liberalen, angeblich demokratischen Linken wohl fühle. Dort gibt es einen starken Hass auf die Religion, der sehr wichtige Differenzierungen der jüdischen religiösen Öffentlichkeit auslöscht. Auch glaube ich nicht, dass wir eine Revolution erleben. Bestimmte Dinge, die schon immer geflüstert wurden, werden jetzt geschrien. Nicht der Charakter hat sich verändert; der Ausdruck dessen, was immer schon da war, ist nur viel deutlicher.
Eine Trennung von Religion und Staat ist keine schlechte Sache. Ein Staat, der durch eine religiöse Ideologie gerechtfertigt ist, kann beängstigend sein. Aber seien wir ehrlich: Die großen Ideologien, die im 20. Jahrhundert so viel Schaden angerichtet haben, sind keine religiösen Ideologien.
KNA: Was ist dann das Problem?
Neuhaus: Nationalismus. Und ein Nationalismus, der religiös wird, ist sehr gefährlich. Die Ansprüche des Nationalismus, die von säkularen Menschen mit extremer Kraft erhoben werden, werden unerträglich, wenn man zusätzlich Gott in die Formel einbringt. Das Problem ist aber nicht der Glaube oder sein Fehlen; sondern eine Ideologisierung der nationalen Identität und des Staates für eine bestimmte Identität. Das hat zu der unerträglichen ethnozentrischen Situation geführt, in der wir sind. An ihr trägt der säkulare Zionismus nicht weniger Schuld als der religiöse. Das kritische Gewicht liegt auf dem Zionismus; nicht darauf, ob er religiös ist oder nicht.
Unsere große Herausforderung ist die Frage der Gleichheit. Sind wir bereit, den anderen als vollwertigen Menschen zu sehen, der gleichermaßen Anspruch auf Rechte, Freiheiten und die Teilnahme an der Zivilgesellschaft hat?
KNA: Sie kehren zurück in Ihr Geburtsland. Wie fühlt sich das an?
Neuhaus: Seltsam und irgendwie verwirrend. Die Leute nehmen an, es sei eine Rückkehr in die Heimat. Nein. Ich kehre nach 45 Jahren in ein Land zurück, das ich nicht kenne. Ich ging als säkularer jüdischer Schüler und kehre als römisch-katholischer Priester in gehobenem Alter zurück. In jeder Hinsicht gehe ich in ein unbekanntes Land, von dem gleichzeitig einiges zu dem gehört, was ich bin.
KNA: Südafrika wird oft in einem Satz mit dem Heiligen Land genannt. Sehen Sie von dort mögliche Inspirationen zur Beendigung des israelisch-palästinensischen Konflikts ausgehen?
Neuhaus: Zu 100 Prozent ja! Was Südafrika verändert hat und woran es uns im Heiligen Land so sehr mangelt, ist eine gesellschaftspolitische Vorstellungskraft. Das hat die Größe von Nelson Mandela und seinen Mitstreitern ausgemacht. Sie sahen etwas anderes für den trostlosen Ort, aufgebaut auf jahrzehntelanger, unglaublich brutaler Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung. Mandela kam aus dem Gefängnis mit einer detaillierten Vorstellung, wie Südafrika als nicht-rassische Gesellschaft aussehen könnte. Uns fehlt diese Vision. Wir haben keine Menschen, die sich ein Israel-Palästina jenseits des Konflikts vorstellen können, das auf dem Konzept von Gleichheit aufbaut.
Das Interview führte Andrea Krogmann.