DOMRADIO.DE: Die NATO-Mitgliedschaft Schwedens rückt näher, das Parlament hat zugestimmt, Ministerpräsidentin Andersson hat das verkündet. Aber was denken die Leute? Sind die jetzt verunsichert?
Pater Philip Geister SJ (Direktor des Newman-Instituts, der einzigen katholischen Hochschule Schwedens): Also rein statistisch sind ungefähr 50% der Leute für diesen Beitritt, 50% sind eher zweifelnd. Mir ist aufgefallen, dass unter den Menschen kaum darüber gesprochen wird, eigentlich gar nicht mehr. Man würde meinen, alle reden drüber, aber de facto ist es glaube ich eher nicht Thema. Ich glaube, die Leute erleben das als eine wichtige, große Entscheidung, aber auch als eine alternativlose Entscheidung. Und ich glaube, das ist der Grund, warum wenig darüber gesprochen wird.
DOMRADIO.DE: Schweden hat die Wehrpflicht für Männer und Frauen 2018 wieder in Kraft gesetzt. Auch damals schon wegen der veränderten Sicherheitslage mit Blick auf Russland. 50.000 Soldaten hat Schweden im Ernstfall zu bieten. Das ist also auch eine Win-Win-Situation für die NATO. Aber wie lässt sich das aus christlicher Perspektive rechtfertigen, einem Militärbündnis beizutreten?
P. Geister: Das Ziel - und das wird natürlich auch in den Zeitungen, auch in den christlichen Zusammenhängen diskutiert - ist natürlich die Erhaltung des Friedens. Und welches das beste Mittel ist wird eben diskutiert. Aber ich glaube, man ist sich schon im Wesentlichen einig, dass eine starke Position des Westens die beste Voraussetzung ist, um den Frieden zu erhalten oder wiederherzustellen. Und insofern ist, glaube ich, auch da die Argumentation relativ einfach. Es wird wenig argumentiert, dass eine Aufrüstung oder eine stärkere Militarisierung dem Frieden schaden würden. Das ist ein Argument, das ich bisher noch nicht viel gesehen habe.
DOMRADIO.DE: Für die NATO ist Schweden auch geografisch sehr interessant. Die NATO könnte von dort aus die baltischen Staaten und Finnland einfacher verteidigen. Die schwedische Insel Gotland in der Ostsee spielt eine wichtige Rolle. Bei Finnland ist das ja noch krasser. Da gibt es diese wahnsinnig lange Grenze zu Russland. Wie nah kommt Ihnen eine Bedrohung aus dem Osten vor, wie real ist so eine Konfrontation mit Russland?
P. Geister: Das ist in Schweden von der Erfahrung sehr real. Wenn Sie zum Beispiel Gotland nehmen, da fliegen ständig Flugzeuge in den Luftraum. Immer mal wieder tauchen russische U-Boote auf. Das ist im Bewusstsein der Leute sehr präsent. Und die Nähe zu den baltischen Ländern und nicht zuletzt nach Sankt Petersburg, das ist eine Bootsfahrt über Nacht von Stockholm.
DOMRADIO.DE: Schweden hat sich genau wie Finnland im Kalten Krieg ganz bewusst gegen die NATO-Mitgliedschaft entschieden und ist neutral geblieben. Könnte man das jetzt nicht als eine Art Vertrauensbruch verstehen?
P. Geister: So argumentieren viele. Ich glaube, die offizielle Antwort der Sozialdemokraten, die ja vor allem diese Allianzfreiheit propagiert haben, ist: Neutral wollte man nie sein, man ist Westen, das ist gar keine Frage. Aber man wollte nicht einer Militärallianz beitreten. Aber wie das der schwedische Verteidigungsminister vor ein paar Tagen ausdrückte: Die Situation hat sich so grundlegend verändert durch den Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine, dass diese Gründe einfach weggefallen sind. Und ich glaube, das überzeugt die Leute.
DOMRADIO.DE: Die Türkei stellt sich quer, dem NATO Beitritt-Schwedens und Finnlands zuzustimmen. Der türkische Präsident Erdogan wirft den Ländern vor, die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Kurdenmiliz YPG in Syrien zu unterstützen. Für die Türkei sind das einfach Terroristen. Können Sie das verstehen?
P. Geister: Nein. Ich meine, das ist eine reine Racheaktion von Erdogan gegenüber der Offenheit der schwedischen Behörden für kurdische Flüchtlinge. Das müssen wir irgendwie lösen. Aber interessanterweise wird das in letzter Zeit in den Medien mehr diskutiert als die NATO oder der NATO-Beitritt selbst, weil man das als eine späte Rache von Erdogan empfindet. Und das ärgert die Leute sehr.
Das Interview führte Hilde Regeniter.