Jesuit Valletti über den Kampf gegen die Camorra

"Religion ohne Ethik"

Papst Franziskus hat in Neapel unter anderem das Armenviertel Scampia besucht. Es gilt als Mafia-Hochburg. Der Jesuit Fabrizio Valletti leitet in Scampia ein Jugendzentrum und berichtet über den dortigen Alltag.

Autor/in:
Christoph Schmidt
Heruntergekommene Wohnblocks im Mafia-Viertel Scampia, einem Stadtteil von Neapel. / © Christoph Schmidt (KNA)
Heruntergekommene Wohnblocks im Mafia-Viertel Scampia, einem Stadtteil von Neapel. / © Christoph Schmidt ( KNA )

Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Pater Valletti, seit dem Film "Gomorrha" ist Scampia international als "Mafia-Hochburg" und "Camorra-Viertel" bekannt. Was steckt hinter solchen Schlagworten?

Fabrizio Valletti: Vermutlich eine Menge übertriebener Vorstellungen. Hier liegen nicht jeden Tag Tote auf der Straße, obwohl es beim großen Bandenkrieg 2004/05 manchmal so war. Scampia ist wie ein Leopardenfell: Manche Wohnblocks werden von der Camorra kontrolliert inklusive Ausweiskontrollen an den Eingängen. Da wird mit Drogen gedealt, da werden Leute versteckt. Aber andere Häuser sind frei davon. Die Mehrzahl der Familien hier hat mit den Clans keine Berührung. Überall sichtbar sind aber die Faktoren, die der Mafia in die Hände spielen: die Massenarmut bei einer Arbeitslosigkeit von 60 bis 70 Prozent, kaputte Familien, in denen Gewalt herrscht, Jugendliche ohne Perspektive, die mit 12, 13 schon kriminell werden. Daher bezieht die Camorra ihr Fußvolk.

KNA: Was tun Sie dagegen?

Valletti: Unser Zentrum macht viele Angebote wie Gesprächsrunden, die auf die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen zielen; ein breites Kulturprogramm - wir haben zum Beispiel ein Orchester mit 30 Musikern, eine Bibliothek und ein Literatur-Cafe; vor allem geht es uns um die berufliche Entwicklung der Jugendlichen, von denen sehr viele die Schule abbrechen. Wir haben eine Näherei, ein kleines Filmstudio, informieren über Berufswege. Insgesamt geht es darum, bei Jugendlichen die Lust auf Bildung und Kreativität zu wecken; ihnen klarzumachen: Zum Knast gibt es viele Alternativen. Du hast viele Möglichkeiten, etwas aus deinem Leben zu machen.

KNA: Was bedeutet ein Besuch von Papst Franziskus für die Menschen?

Valletti: Das ist für sie ein großer Moment. Die Leute sind sehr gläubig. Aber ich vergleiche das mit einem religiösen Fieber. Drei Tage später wird hier alles wieder so sein wie vorher. Die einfachen Leute haben leider einen sehr unreifen Glauben. In jedem Wohnzimmer steht eine Heiligenstatue, aber den Kern der Lehre Jesu begreifen viele nicht.

KNA: Den Mafiosi hat Franziskus klipp und klar mit Exkommunikation gedroht. Das müssten sie doch begreifen?

Valletti: Sowas bringt nicht viel, das verstehen die gar nicht. Die Clans haben ihr eigenes Verständnis von Religion. Mafiosi wollen eine protzige Beerdigung, eine kitschige Erstkommunion für den Sohn und persönlichen Beistand von dem Heiligen, den sie an einer Goldkette um den Hals tragen. Das ist ein Katholizismus mit viel Aberglaube, aber ohne Ethik, ohne Sinn für's Gemeinwohl. Ich kenne zwar Gangster, die sich im Gefängnis zu einer christlichen Lebensführung bekehrt haben. Aber auch das nur aus Egoismus, weil sie sich davon später eine Belohnung versprechen.

KNA: Hat da nicht auch die Kirche versagt?

Valletti: Natürlich. Die Kirche in Süditalien legt viel Wert auf die Befolgung bloßer Verehrungsrituale und spricht zu wenig darüber, wie der Glaube das persönliche Verhalten, den Lebensalltag prägen sollte. Vor einiger Zeit hat Kardinal Sepe, unser Erzbischof, in einem Hirtenbrief die Priester aufgerufen, sie sollten öfter "raus aus den Sakristeien", in die Gesellschaft und sich als echte Seelsorger den sozialen Problemen stellen, mit dem Evangelium in der Hand. Das sagt ja auch Papst Franziskus immer wieder.

KNA: Stattdessen konnte sich die Mafia oft auf die stillschweigende Duldung der örtlichen Kirche verlassen.

Valletti: Da gab es eine kulturelle Verbindung. Die Bosse ersetzten oft den fehlenden Staat und waren eine wertkonservative, antikommunistische Ordnungsmacht; außerdem großzügige Spender an die Kirche. Immer noch gibt es zwischen der Mafia und manchem Priester eine Zusammenarbeit. Aber seit Johannes Paul II. gibt es auch sehr deutliche Signale gegen die Mafia. Priester wurden von ihr erschossen, weil sie öffentlich gegen die Clans und ihre Geschäfte auftraten. Die alte Doppelmoral funktioniert nicht mehr so wie früher.

KNA: Sind denn also Camorra, Cosa Nostra und Co auf dem Rückzug?

Valletti: Das nicht. Mit der Globalisierung sind ihre Möglichkeiten eher gewachsen. Es wird ziemlich lange dauern, dieses Phänomen auszurotten. Aber man kann den Gangstern das Leben schwerer machen. Der gesellschaftliche Widerstand hier in Campanien, in Kalabrien und auf Sizilien wächst. Aber das wichtigste sind Arbeit, Bildung, gesunde wirtschaftliche Entwicklung. Solange der Staat da keinen Erfolg hat, gedeiht auch das Verbrechen.

Der Jesuitenpater Fabrizio Valletti (77) leitet das Jugendzentrum Hurtado in der Camorra-Hochburg Scampia im Norden Neapels.


Quelle:
KNA