domradio.de: Was ist das für ein Gefühl – 80 Jahre alt werden?
Pater Eberhard von Gemmingen: Ein eigenartiges Gefühl. Einerseits fühle ich mich immer noch dynamisch und jung. Andererseits ist ja doch 80 ein gescheites Alter. Ich spreche gerne von einem "vernünftigen Alter", um zu sagen, dass auch die älteren Herrschaften weder blöd noch unfähig sind - und schon gar nicht auszurangieren. Man muss das Alter annehmen, und das ist gar nicht so einfach: Nicht mehr so gebraucht zu werden, nicht mehr so gefragt zu sein. Die Leute sagen: "Jetzt können Sie Ihren wohlverdienten Ruhestand genießen!". Aber ich persönlich würde in der Welt gerne noch einiges in Ordnung bringen oder jedenfalls die Menschen auf einige Dummheiten hinweisen, die unsere Gesellschaft macht. Ich würde gerne noch einiges bewegen, weil ich glaube, es wäre notwendig, dies oder jenes noch in Gang zu bringen.
domradio.de: Ihren Job als Leiter der deutschsprachigen Abteilung von Radio Vatikan, den haben Sie 2009 aufgegeben. Vermissen Sie den Vatikan, vermissen Sie Rom?
Pater Eberhard von Gemmingen: Ich vermisse Rom, die Stadt Rom, die Altstadt von Rom. Dort irrt immer noch meiner Seele durch die Straßen. Ich habe das nicht geahnt, als ich von Rom weggegangen bin, dass doch meine Seele dort geblieben ist – und bleibt. Der Verstand ist hier, und ich bin auch sehr zufrieden mit meiner jetzigen Arbeit. Aber ich würde auch gerne noch viel durch Rom pilgern und wandern und erschnüffeln. Denn wenn man dort zur Arbeit geht, geht man von zu Hause zur Arbeit und von der Arbeit nach Hause und ist sich nicht bewusst, dass man ständig an historisch wichtigen Stellen vorbeikommt. Zum Beispiel am Krankenhaus Santo Spirito, ein auch architektonisch interessantes Gebäude. Und wenn man an Resten von Türmen und von Stadtmauern vorbeigeht und an verschiedenen Orten, wo große Heilige, große Persönlichkeiten gelebt und gewirkt haben. Ich habe jahrelang von meinem Schreibtisch aus auf die Engelsburg und die Engelsbrücke geschaut, und wenn man weiß, was da alles passiert ist im Laufe von Jahrhunderten, ist das wirklich sehr bewegend. Wenn man dort ist und arbeitet, dann ist es so alltäglich. Aber von hier aus gesehen ist es gar nicht alltäglich.
domradio.de: Wie sehr verfolgen Sie denn die Geschehnisse im Vatikan und rund um den Vatikan heute noch?
Pater Eberhard von Gemmingen: Das bewegt mich natürlich nach wie vor. Ich verfolge, was in den Zeitungen darüber steht. Und Papst Franziskus bewegt mich. Ich finde schon seine Namenswahl wahnsinnig aufregend. Ich kann mir vorstellen, dass Papst Benedikt oft die Stirn gerunzelt hat, wenn er hörte, was Franziskus getan hat oder tut: der Name, das Wohnen, der andere Umgang, das Aus-der-Reihe-Tanzen. Wie er nach der Wahl gleich auf der Loggia aufgetaucht ist und "Buonasera" gesagt hat. Papst Benedikt wird wohl oft gedacht haben: "Erstaunlich! Kann man es so anders machen!" Benedikt war ein Typ, der einfach gedacht hat: so funktioniert die Ordnung, da muss ich mich dran halten. Und Franziskus tanzt einfach aus der Reihe.
domradio.de: Franziskus ist ja Jesuit wie Sie. Waren Sie da ein bisschen traurig und haben gedacht "Mensch, ausgerechnet diesen Jesuitenpapst, den habe ich jetzt verpasst als Leiter von Radio Vatikan!"?
Pater Eberhard von Gemmingen: Nein, so habe ich nicht gedacht. Aber an dem Abend, wo er gewählt wurde, hatte ich einen Vortrag in Attendorn. Um halb war noch nicht klar, wer hinter dem weißen Rauch hervorkommen würde. Und dann habe ich den Leuten im Publikum gesagt: "Bitte schalten Sie Ihre Handys ein, rufen Sie zu Hause an und sagen Sie laut der Gruppe, wer Papst geworden ist. Es war dann eine große Überraschung. Ich wusste nicht genau….Bergoglio, kann doch gar nicht sein – und habe in Rom angerufen, da vor der versammeltem Mannschaft in Attendorn. Und da hörte ich, "Ja, Bergoglio!" Und ich wusste, dass er ein Jesuit war und dass er auch ein bisschen umstritten war. Und am Tag danach hatte ich einen Vortrag im Politischen Internationalen Club in Bonn, wo lauter alte Botschafter saßen und dann von mir die Wahrheit hören wollten, und ich konnte ihnen nur wenig über Franziskus sagen, aber ich konnte halt vieles über den Vatikan sagen.
domradio.de: Seitdem sind mehr als drei Jahre vergangen. Was erwarten Sie sich noch von Papst Franziskus?
Pater Eberhard von Gemmingen: Ich glaube, er möchte noch vieles umstellen, vor allem einfache strukturelle Umstellungen, Dezentralisierungen und zum Beispiel die ganze Frage, wie Bischöfe ernannt werden, wie die Ortskirchen mitspielen, wie die Autonomie der verschiedenen Ortskirchen ist oder welche Rolle die Frauen in der Kirche spielen sollen. Aber er wird sich auch sagen, dass er das nicht zu schnell anpacken kann, weil es sonst am Ende gar nicht geht. Außerdem geht es ja auch nicht um Strukturen, sondern um den Glauben an Jesus Christus, das ist das Entscheidende. Aber ich glaube, er möchte Weichen stellen und weiß, dass er nur die Weichen in eine bestimmte Richtung stellen kann und dass es dann in diese Richtung nach ihm weitergehen muss. Weil, er ist gescheit genug zu sagen: "Man kann nicht die Kirche in wenigen Jahren auf den Kopf stellen!". Außerdem sollte die Kirche viel weniger vom Vatikan abhängen oder vom Papst. Es kann nicht sein, dass die ganze Welt, alle Katholiken rund um den Globus immer nur auf den Papst schauen und sich fragen, was der entscheidet.
domradio.de: Schauen wir noch einmal auf Sie. Sie haben nach dem Weggang aus Rom einige Jahre Fundraising für Ihren Orden betrieben, auch dieses Amt haben Sie jetzt abgegeben, was sind denn jetzt Ihre Pläne für die nächsten Jahre?
Pater Eberhard von Gemmingen: Einerseits möchte ich meinen Nachfolger beim Fundraising noch ein bisschen unterstützen. Konkret heißt das, ich suche Freunde, die uns auch finanziell unterstützen, unsere beiden Hochschulen und den Flüchtlingsdienst. Und ich versuche meine Kontakte zu Medienleute zu nutzen, um auf eine dramatische Entwicklung aufmerksam zu machen. Nämlich darauf, dass Jesus von Nazareth über Jahrhunderte in Europa eine zentrale Persönlichkeit war – ob man nun an ihn geglaubt hat oder nicht, aber die Leute kannten ihn, die Bergpredigt, die Zehn Gebote etc. Und ich fürchte, das wird vergessen. Und das ist ein Drama. Ein weltgeschichtliches Drama, wenn Europa den wichtigsten Mann für Europa, Jesus Christus, vergessen würde. Und wir sind schon dabei, ihn zu vergessen.
domradio.de: Vielleicht auch im Zusammenhang damit – Ihr wichtigster Wunsch für die Weltkiche?
Pater Eberhard von Gemmingen: Mein wichtigster Wunsch für die Weltkirche ist, dass das, was einmal in Europa durch den Glauben entstanden ist, nämlich soziales Denken, sich rund um den Globus verbreitet. Dass wir auch Gewerkschaften haben, die sich für die Arbeiter einsetzen, dass wir Sozialversicherungen haben, dass wir Rechtssicherheit haben, dass auch die berühmte arme Witwe zu ihrem Recht kommt. Das ist Frucht des Christentums. Und diese Frucht des Christentums, die wir uns in Europa erobert haben, die möge doch rund um den Globus zum Tragen kommen. Und das ist noch lange nicht der Fall. Rund um den Globus kommen die Reichen zu ihrem Recht und die Habenden und die Mächtigen und die mit Schießgewehr.
domradio.de: Und ihr wichtigster Wunsch für die Kirche in Deutschland?
Pater Eberhard von Gemmingen: Dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren und nicht auf den Vatikan starren und schimpfen, sondern dass wir uns der Bedeutung Jesu Christi bewusst bleiben. Ich sage das ganz fromm: Jesus Christus ist die Seele Europas. Und das soll so sein und bleiben und werden. Jahrhundertelang ging das quasi automatisch und heute muss es erkämpft und errungen werden. Wir müssen den Schatz Jesus Christus und den Schatz der Bibel und der Bergpredigt neu entdecken für uns.
domradio.de: Und was wünschen Sie sich für sich selbst?
Pater Eberhard von Gemmingen: Ich wünsche mir, dass ich gelassen und würdig im Alter auch dem Tod entgegen gehe. Gelassen, würdig, gläubig – nicht aufgeregt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.