Jüdische Zeitzeugin berichtet über Nachkriegs-Flüchtlingslager

"Menschliche Seele kann stark sein"

Heute ist Deutschland für viele Flüchtlinge das Ziel schlechthin - doch es gab auch andere Zeiten, so sagt Shulamit Zakai. Die Jüdin (81) wohnte als Kind von 1946 bis 1948 mit ihrer Mutter im oberbayerischen Eichstätt in einem Lager für "Displaced Persons".

Davidstern / © Franziska Broich (KNA)
Davidstern / © Franziska Broich ( KNA )

KNA: Frau Zakai, was ist Ihre stärkste Erinnerung an das Lagerleben in Eichstätt?

Shulamit Zakai (jüdische Zeitzeugin): Vielleicht die an mein allererstes Kirsch-Eis. Das habe ich in Eichstätt gegessen und ich mag es bis heute gern. Außerdem kann ich mich an einige schöne Filme erinnern, die ich dort gesehen habe. Einer war mit Errol Flynn, in einem anderen ging's ums Boxen. Außerdem war ich öfter Klettern in den Hügeln um Eichstätt - eine herrliche Natur.

KNA: Das klingt nicht so entbehrungsreich, wie man sich ein Lagerleben vorstellt.

Zakai: Es war für mich ein gutes Leben. Wir lebten in einem Camp für heimatlose Juden, die von aller Orten kamen und durch die Kriegswirren in Eichstätt gelandet waren. Zwar hausten meine Mutter und ich die meiste Zeit mit anderen Familien in einer einzigen Wohnung - wir belegten die Küche und schliefen dort in einem Bett. Aber das Lager verwaltete sich weitgehend selbst und legte dabei auch Wert auf das Schöne. Es wurden Festivals organisiert, es gab Theater- und Musikaufführungen. Man kann es so sagen: In Eichstätt hat das Leben von Neuem begonnen - nachdem die Bewohner es in den Jahren zuvor leicht hätten verlieren können, bloß wegen ihrer Religion.

KNA: Wie kamen Sie nach Eichstätt?

Zakai: Meine Familie stammte aus einem Ort, der vor dem Krieg in Polen lag und heute zur Ukraine gehörte. Mein Vater wurde 1939 von den Rotarmisten unter Arrest gestellt und kam 1942 durch einen Nazi-Luftangriff ums Leben. Da lebten meine Mutter und ich schon drei Jahre in Sibirien, wohin wir deportiert worden waren. In den dortigen Lagern ging es wirklich ums Verhungern - da war nichts mit Kirsch-Eis. 1945 durften wir nach Polen zurückkehren. Aber fast unsere ganze Familie war ausgelöscht worden. Eine Israelin aus meiner Generation hat gesagt: «Großeltern hatte man nicht - die waren etwas aus Märchenbüchern.» So irrten wir umher, bis nach Eichstätt.

KNA: Hatten Sie dort Kontakt zu Alteingesessenen?

Zakai: Nein. Sicher auch wegen der latenten Furcht, die ich mit mir herumtrug. Ich wusste seinerzeit zwar noch nicht wirklich um den Holocaust. Aber ich hatte mitbekommen, dass mit Menschen wie mir Schlimmes passiert sein musste, der Deutschen wegen. Deshalb bin ich außerhalb des Lagers - wir konnten uns ja frei bewegen - immer extra leise durch die Straßen gegangen, um bloß nicht aufzufallen. Einmal waren meine Sorgen besonders stark: als es ein paar Tage lang nachts seltsame Geräusche bei uns zu Hause gab. Ich konnte kaum schlafen. Ich weiß bis heute nicht, was das war. Wahrscheinlich war es harmlos, aber mich in meinem Dauerspannungszustand hat es sehr verunsichert.

KNA: Wussten Sie die ganze Lagerzeit über, dass Deutschland für Sie nur eine Durchgangsstation sein würde? 1948 sind Sie nach Israel ausgewandert, wo Sie bis heute leben.

Zakai: Ja, das war klar. Auf unserem Weg von Sibirien hatte meine Mutter bereits von der Tragödie unserer Familie gehört. Sie begriff, dass sie nicht nur ihren geliebten Ehemann, sondern auch vier ihrer Schwestern sowie deren Angehörige verloren hatte, dazu ihre Schwiegermutter und viele weitere Verwandte. Auf unserem Weg nach Eichstätt wurden wir zudem selbst Opfer antisemitischer Attacken. So wurde meiner Mutter bewusst, dass sich nicht viel verändert hatte und dass der einzige Platz für uns unsere Heimat wäre - Israel.

KNA: Warum finden Sie es wichtig, heute von Ihrer Fluchtgeschichte zu erzählen?

Zakai: Ich möchte, dass folgende Generationen den wahren Preis dessen verstehen, was es bedeutet, wenn Menschen einander mit Bösartigkeit und Gewalt begegnen. Zudem sind heute so viele Menschen auf der Welt auf der Flucht. Da ist es mir auch wichtig, diesen Leuten etwas Hoffnung und Inspiration zu geben, indem ich durch meine Geschichte zeige, dass die menschliche Seele viel stärker sein kann als wir oft glauben. Wenn ich und meine Nachkommen es geschafft haben, aus der Asche wieder aufzuerstehen, dann mag es auch für andere möglich sein, sich ein neues Leben aufzubauen.

Christopher Beschnitt


Shulamit Zakai, ehemalige Bewohnerin eines Nachkriegs-Flüchtlingslagers für "Displaced Persons" in Eichstätt / © Christopher Beschnitt (KNA)
Shulamit Zakai, ehemalige Bewohnerin eines Nachkriegs-Flüchtlingslagers für "Displaced Persons" in Eichstätt / © Christopher Beschnitt ( KNA )
Quelle:
KNA