domradio: Wie haben Sie den Prozessauftakt erlebt? Als das Eingeständnis der moralischen Schuld?
Günther Bernd Ginzel: Das ist zumindest mal etwas. Es ist noch immer ein "Herumlavieren" und aus den bisherigen Äußerungen geht nicht hervor, dass der Angeklagte tatsächlich eine bessere Einsicht hat. Aber immerhin. Und eine Aussage wird ganz wichtig: Er sagt, "kaum dass ich in Auschwitz ankam, wurde ich informiert, dass dies ein Vernichtungslager ist und wusste was hier passiert." Moralisch, sagt er, sei er damit schuldig geworden, juristisch nicht. Letzteres ist mir, ehrlich gesagt, egal. Ein solcher Prozess ist unabhängig von dem individuellen Schuldnachweis wichtig. In einer Zeit, in der wie nie zuvor nach 1945 der Holocaust auch von Regierungen geleugnet wird, ist es wichtig, dass einer der mutmaßlichen Täter darauf hinweist, wie bekannt es war und dass diese Gräueltaten tatsächlich stattgefunden haben.
domradio: Der Prozess findet 70 Jahre nach den Taten statt. Der Angeklagte ist 93 Jahre alt. Was kann man von dem Prozess erwarten?
Günther Bernd Ginzel: Man kann erwarten, dass man sich mit dem Thema noch einmal auseinandersetzt und dass wir sensibler werden. Deswegen ja auch die Unruhe bei den Überlebenden, die ja in großer Zahl angereist sind oder als Nebenkläger fungieren. Sie haben das Gefühl, dass sie am Ende ihres Lebens wie Lügner dargestellt werden. Etwa von offiziellen Regierungen wie dem Iran, das sich zu einem Zentrum des rechtsextremen Leugnertums entwickelt hat. Oder indem der Holocaust in den Schulbüchern Palästinas nicht stattfindet. Oder dadurch, dass in vielen Teilen der Welt - auch in Osteuropa - und bei unseren Nachbarn in Skandinavien faschistische Organisationen Zulauf haben. Das rüttelt nun noch einmal auf. Die jüngeren Generationen müssen sich nicht damit aufhalten, zu betonen, dass sie damit unmittelbar als Täter oder als Mitschuldige nichts zu tun haben. Aber, es ist wichtig deutlich zu machen, was passiert ist. Nämlich, dass ein solcher Wahnsinn systematisch, bürokratisch mit Buchhaltern wie eben jetzt dem Angeklagten durchgeführt werden konnte. Ich glaube, dass dies etwas ganz Entscheidendes ist und Deutschland hat in der Vergangenheit, die zwar spät eingesetzte, aber dann immerhin doch stattgefundene Aufarbeitung der Vergangenheit ungemein geholfen. Wir sind glücklich in Deutschland, dass wir es nicht mit einem Rechtsextremismus-Problem zu tun haben, wie etwa bei unseren französischen Freunden.
domradio: Heißt das auch, dieser Prozess ist für die Überlebenden des Holocausts und für ihre Angehörigen ein wichtiger Schritt in der weiteren Aufarbeitung?
Günther Bernd Ginzel: Es ist ein wichtiger Schritt. Vor allen Dingen für die Überlebenden, um das Gefühl zu bekommen, es war nicht sinnlos, überlebt zu haben. Es ist die enorme Frage: Wenn Millionen vor ihren Augen umkommen, warum hab ich dann überlebt? Mit dieser Frage quälen sich viele. Und viele spürten diese moralisch politische Verantwortung, daran zu erinnern, was passiert ist. Nicht im Sinne von ständigen Schuldvorwürfen, sondern indem dieses Leid nicht verdrängt oder gar geleugnet wird. Ich glaube, dass das für sie außerordentlich wichtig ist, an ihrem Lebensabend zusammen mit ihren Kindern und Enkelkindern noch einmal so eine Art Abschluss machen zu können. Einen juristischen Abschluss, der freimacht darüber nachzudenken, wie wir nun gemeinsam weit über die Opfergruppen hinaus eine Welt gestalten können, in der sich das nicht wiederholt. Obwohl wir ja im Moment in einer Welt leben, wo die Gräueltaten einander ablösen.
domradio: Was erwarten Sie, wie der Prozess ausgehen wird?
Günther Bernd Ginzel: Ich glaube, dass wir jetzt eine andere Juristen-Generation haben. Wir müssen ja immer wieder sehen, wenn ein solcher Prozess stattfindet, dann hängt das damit zusammen, dass die bundesdeutsche Justiz über 20 Jahre versucht hat, solche Prozesse zu verhindern. Ganze Staatsanwaltschaften, wie die in Hamburg, haben sich geweigert, ordentlich zu ermitteln. Hier sehen wir die Fehler, dass der Justizapparat nicht entnazifiziert worden ist. Auch der ganze Berufsstand der Juristerei ist nicht entnazifiziert worden. Die haben ja alle weitergemacht. Das Gleiche gilt für die Polizei. Deswegen zerren wir jetzt Greise vor Gericht. Es ist unwichtig, ob der Mann jemals eine Strafe wird verbüßen müssen. Wichtig ist, dass deutlich gemacht wird, so etwas verjährt nicht. Das bezieht sich dann auch auf andere Verbrechen, auf andere Genozide. Wichtig ist weiterhin, dass wir uns gemeinsam noch einmal erinnern. Dies geschah nicht irgendwo, sondern in einem Land der Hochkultur und der christlichen Zivilisation. Und hier, glaube ich, haben wir die Verantwortung, Konsequenzen daraus zu ziehen. Dieser Prozess ist wie ein Appell: Werdet menschlicher!
Das Interview führte Matthias Friebe.