Die stärksten Appelle kommen am Ende aus dem Publikum. "Als Mohammed Mekka einnahm, holte er alle drei Religionen an einen Tisch: Muslime, Juden und Christen. Und wir sind heute hier, um das fortzuführen, was unser Prophet begonnen hat." Es gibt viel Applaus für den jungen Mann, der an diesem Samstagmittag in der Ditib-Zentralmoschee in Köln das Wort ergriffen hat. In den rund zwei Stunden zuvor ging es immer wieder um das gegenseitige Verständnis zwischen Religionen und Kulturen, aber auch um Unverständnis, Perspektiven für Deutschland sowie das Selbstverständnis junger Christen und junger Muslime.
Auf Einladung der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib) und der in München ansässigen Eugen-Biser-Stiftung diskutierte der frühere Bundespräsident Christian Wulff (2010-2012) mit 90 christlichen und muslimischen jungen Erwachsenen.
Wulff prägte den Satz: "Der Islam gehört zu Deutschland"
Der Empfang für Wulff ist warmherzig: Schließlich war er es, der 2010 zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit mit dem Satz "Der Islam gehört zu Deutschland" für intensive Debatten sorgte. Als "unser Freund" wird er von Ditib-Sekretär Bekir Alboga (53) begrüßt. Und Wulff nutzt die Steilvorlage: Für seinen ersten Besuch in der Kölner Zentralmoschee habe er die so wichtige Bundesliga-Partie seiner Hannoveraner gegen den 1. FC Köln sausengelassen, sagt er.
Eindringlich warnt der CDU-Politiker vor einer Spaltung der Gesellschaft. Die Bevölkerung sei extrem verunsichert: "Terror von Sydney bis Ottawa, die Völkerwanderung, die Flüchtlingsströme" sowie Kriege und das Auseinanderbrechen alter Freundschaften zwischen Deutschland und Russland. Als zentrale Ursache nennt der 55-Jährige einen falschen Umgang mit Globalisierung: "Wenn wir die Probleme nicht in der Welt lösen, werden sie zu unseren Problemen." Heute klopften sie "an unsere Tür".
Viele Menschen suchten nach einem Verantwortlichen, einem Schuldigen - und schöben beides den Muslimen zu, so Wulff weiter. Viele Muslime erlebten sich daher als ungewollt oder sogar gehasst. Manche gingen in die Türkei. Das sei "ein Verlust für Deutschland".
Gemeinsamkeiten der Weltreligionen sehen
Der frühere Bundespräsident appelliert an die rund 90 Teilnehmer, die Gemeinsamkeiten der monotheistischen Weltreligionen zu sehen. In einer Gesellschaft, in der die nicht religiösen Deutschen mit 34 Prozent mittlerweile die größte Gruppe bildeten, sei es wichtiger denn je, dass "alle dafür kämpfen, dass Religion nicht zum Zankapfel wird, sondern zur Brücke der Verständigung".
Wulff ist sich sicher: "Wir verändern die bei uns lebenden Muslime stärker als sie uns." Manches sei für sie schwer zu schlucken: die Gleichberechtigung, die Meinungsfreiheit oder die Freiheit von Kabarett und politischem Zeichenstift. "Aber dahinter gehen wir nicht zurück! Das sind unsere Werte", so Wulff.
Auch Alboga wirbt dafür, dass sich Christen und Muslime auf das Verbindende und die ethische Kraft ihrer Religionen besinnen. Der Islamwissenschaftler betont, dass die Vielfalt der Kulturen nicht nur zum "koranischen Verständnis" gehöre, sondern "gottgewollt" sei. Seine Glaubensbrüder und -schwestern, die schon lange in Deutschland leben, sieht er besonders in der Pflicht, den Flüchtlingen, die oft Muslime sind, zu zeigen, wie Integration gelingen kann. "Wenn wir es nicht tun, wer dann?"
Dialog mit Religionslosen suchen
Am Ende ist man sich in der Runde einig, dass es heute für Christen und Muslime wichtig sei, den Dialog mit den Religionslosen zu suchen. Sowohl junge Christen als auch junge Muslime stießen auf Unverständnis bei Religionslosen, teils auch auf massive Kritik oder Vorwürfe, ein Extremist zu sein, wenn man über Glaube und Religion sprechen wolle.
Im überwiegend muslimischen Publikum macht sich am Ende vereinzelt sogar so etwas wie Aufbruchsstimmung breit. "Wir Muslime reden vieles schön", sagt ein junger Student. Oft seien "die anderen" schuld. "Ich erlebe bei uns Muslimen den selbstkritischen Diskurs noch nicht", bedauert er. Ob es um die Rolle der Frau gehe, Antisemitismus, Radikalisierung oder anderes - "das können wir nicht der AfD überlassen!"