domradio.de: Statt Sigmar Gabriel ist Martin Schulz jetzt also Kanzlerkandidat der SPD. Schulz war bis vor kurzem noch Chef des Europäischen Parlaments. Sind Sie von dieser Entscheidung überrascht worden?
Andreas Luttmer-Bensmann (KAB-Bundevorsitzender): Ich war auf jeden Fall davon überrascht, dass es gestern bekannt gegeben worden ist. Die SPD hat lange gezögert. Der 29. Januar wurde immer wieder genannt. So ganz überrascht über die Personalentscheidung bin ich aber nicht, weil die Frage "Wer ist der bessere Herausforderer für Angela Merkel? " in den letzten Wochen ja immer wieder diskutiert wurde.
domradio.de: Der Werdegang von Martin Schulz klingt für einen Spitzenpolitiker eher ungewöhnlich. Er hat kein Abitur, er war Buchhändler, auch Arbeitslosigkeit ist ihm nicht unbekannt. In der SPD wird er jetzt als Aufsteiger gefeiert, als Beispiel dafür, dass man es mit genug Fleiß in Deutschland sehr wohl nach ganz oben schaffen kann. Inwieweit glauben Sie, beeinflusst sein Lebenslauf, dieses Hocharbeiten, auch seine politische Linie?
Andreas Luttmer-Bensmann: Das würde mich freuen. Ich glaube, dass es gut ist, wenn Menschen für ihr politisches Engagement auch so ganz normale Lebenswirklichkeiten im Blick behalten. Dann ist es einfacher eine Politik zu machen, die dem Anspruch den er da formuliert hat, für die hart arbeitenden Menschen ein gutes und sicheres Leben zu organisieren, auch gelingen kann.
domradio.de: Schulz hat bereits einen Wahlkampf um "soziale Gerechtigkeit" angekündigt. Nehmen Sie ihm das ab oder wollte er damit nur zeigen, dass er das Parteiprogramm auch nach der langen Zeit in Brüssel kennt?
Andreas Luttmer-Bensmann: Da bin ich bei allen Parteien zurzeit sehr skeptisch. Es gilt ja insgesamt die Diskussion um "soziale Gerechtigkeit" als das zentrale Thema. Aber nur Papier reicht an dieser Stelle nicht aus. Nur Wahlkampfprogramme helfen nicht, sondern es muss dann auch eine entsprechende Politik gemacht werden. Da bin ich mir noch nicht so sicher, ob die Parteien im Moment überhaupt bereit sind, aus dieser derzeit doch neo-liberalen Diskussion um Wirtschaftsperspektiven auszusteigen und die Frage zu stellen: "Was bedeutet eigentlich Förderung von Wirtschaft - auch für die Menschen, die davon in Arbeit oder auch ohne Arbeit betroffen sind?"
domradio.de: Sie haben mal gesagt, dass SPD-Chef Sigmar Gabriel den Aufbruch zu einer nachhaltigen und fairen Wirtschaftsweise nun verspielt habe. Freuen Sie sich also jetzt über den Wechsel?
Andreas Luttmer-Bensmann: "Freuen" ist das falsche Wort. Ich finde es spannend, jetzt eine andere Person zu erleben. Ich bin gespannt, wie er die Fragestellung angeht, wie er sich einbringt. Ob es ihm gelingt, wieder die Basis der SPD an die Politik, die auf der Bundesebene gemacht wird, anzubinden und dann seinen Worten auch Taten folgen zu lassen. Ich bin wirklich gespannt, ob Politik damit auch ein anderes Gesicht bekommen kann.
domradio.de: "Soziale Gerechtigkeit" ist ja erstmal ein Schlagwort und dann auch ein wirklich weites Feld. Was fordern Sie denn ganz konkret?
Andreas Luttmer-Bensmann: Also, ich glaube, nach wie vor müssen wir ernst nehmen, dass Arbeitslosigkeit ein Problem in diesem Land ist. Wir haben immerhin noch über zwei Millionen Menschen, die keine Erwerbstätigkeit haben. Da von einer entspannten Situation zu reden, ist eigentlich irrsinnig. Ich glaube, dass es da wichtig ist, wirklich Akzente zu setzten - insbesondere für diejenigen, die schon sehr lange arbeitslos sind. Unsere sozialen Sicherungssysteme werden durch die Veränderung in der Arbeitswelt massiven Herausforderungen gegenüberstehen. Die Frage ist, wie es gelingt, das zu organisieren? Wie kriegen wir es hin, eine Rente zu schaffen, die Armutsgefährdung ausschließt? Wie gelingt es uns, das Gesundheitssystem so umzustellen, dass Gesundheit für jeden bezahlbar wird? Wie können wir die ganzen Probleme im Pflegebereich auch organisieren? Wir müssen besonders in den Blick nehmen, dass es eine ganze Menge Menschen gibt, die da arbeiten. Auch das müssen wir ernst nehmen.
domradio.de: Nochmal zum Stichwort "Arbeitnehmerrechte", da haben Sie jetzt auch schon einiges genannt. Würden Sie sagen, da bringt er aus Brüssel auch Erfahrungen zu diesen Themen mit?
Andreas Luttmer-Bensmann: Eher wenig, denn in Brüssel ist Sozialpolitik ja nur ein Randthema. Das ist ein Problem unserer ganzen Organisation der Europäischen Union. Ich glaube, dass da dieser Akzent nur sehr wenig eine Rolle gespielt hat - selbst wenn Kommissionspräsident Juncker jetzt angekündigt hat, dass er soziale Politik und soziale Gerechtigkeit auch in Europa in den Mittelpunkt stellen will. Ich hoffe eher, dass er sich an seine Geschichte erinnert und vielleicht aus diesem Kontext heraus nochmal die Frage stellt: "Was heißt denn Sozialpolitik gestalten eigentlich wirklich?"
domradio.de: Glauben Sie, dass Sie in Martin Schulz mit den Anliegen der KAB einen guten Ansprechpartner finden?
Andreas Luttmer-Bensmann: Das kann ich noch nicht sagen. Ich kenne Martin Schulz leider noch nicht. Ich hoffe, dass wir den Kontakt zu den Parteien behalten und dass mit ihm ein Ansprechpartner da ist, mit dem wir auch über die Dinge wirklich ernsthaft reden können, um die es in dieser Gesellschaft gehen muss.
Das Interview führte Hilde Regeniter.