DOMRADIO.DE: Ein Jahr danach sind über 700 der Angreifer auf das Kapitol im Gefängnis. Im Sommer hat ein Untersuchungsausschuss seine Arbeit aufgenommen. Aber Trump und seine Anhänger stellen die Erstürmung weiter als legitimen Protest gegen Wahlfälschung dar. Wie gespalten ist die US-Bevölkerung in der Beurteilung dieser Ereignisse von damals?
Godehard Brüntrup (Jesuitenpater und USA-Kenner): Amerika ist ein gespaltenes Land. Amerika hat sich nie mehr Gewalt angetan als im eigenen Bürgerkrieg. Andere Kriege haben nie so viele Todesopfer gefordert. Auch heute noch ist es ein gespaltenes Land. Bei diesem Überfall am 6. Januar ist zum ersten Mal die Flagge der Konföderierten, der Südstaatler im Kapitol zu sehen gewesen. Das muss man immer im Hintergrund haben, es ist ein gespaltenes Land. Und so ist auch die Deutungshoheit noch nicht ganz klar.
Die einen sagen, das ist eine Demonstration, die außer Kontrolle geraten ist. Es waren relativ wenige, die gewalttätig waren, vielleicht knapp 200 Personen. Während Tausende nicht gewalttätig waren. Und diese wenigen Gewalttätigen werden jetzt so dargestellt, als hätte es hier einen Staatsstreich gegeben. Die andere Seite sagt, das war ein Staatsstreich und es war geplant von Trump. Und zwischen diesen beiden Narrativen gibt es einen Kampf um die Deutungshoheit.
DOMRADIO.DE: Trump selbst, so heißt es jedenfalls bisher, will heute schweigen. Biden will dagegen eine Rede halten. Wie wichtig wäre es für den amtierenden Präsidenten, diese Deutungshoheit über den Sturm auf das Kapitol stärker an sich zu ziehen?
Brüntrup: Es wäre wichtig herauszufinden - und da gibt es ja Untersuchungsausschüsse -, welche Gruppen das langfristig geplant haben und welche Beziehungen zur Trump-Regierung bestanden haben. Erst wenn das klar bewiesen ist, kann man wirklich sagen, dass hier im Hintergrund tatsächlich so etwas wie ein Staatsstreich geplant gewesen wäre.
Ansonsten muss man sagen, ist es eine Demonstration, die völlig außer Kontrolle geraten ist und man umgekehrt den Staat fragen muss: Warum habt ihr das Kapitol nicht hinreichend geschützt? Denn der damalige Verteidigungsminister hat zugegeben, dass Trump drei Tage vorher um die Nationalgarde gebeten hat, die aber nicht geschickt wurde.
Hier ist noch viel Arbeit zu tun. Ich habe vor kurzem mit einer Staatsanwältin gesprochen, die die Anklage derjenigen vorbereitet, die Straftaten begangen haben. Das sind etwa 200 Personen, die dort beteiligt sind. Und sie sagt: Es ist eine unglaubliche Arbeit. Sie müssen an den Handy-Aufzeichnungen bei vermummten Personen herausfinden, wer das genau ist. Und das wird noch einige Zeit dauern. Auch wenn es bereits Urteile gab, etwa bei dem Mann, der einen Feuerlöscher auf die Polizei geworfen hat. Er hat eine mehrjährige Haftstrafe bekommen.
DOMRADIO.DE: Das ist ja auch ein bisschen absurd, dass die Angreifer selbst das Videomaterial per Handyvideo geliefert haben.
Brüntrup: Ja, das spricht eher dagegen, dass es zu gut organisiert war. Aber es gibt sicherlich einige Gruppen - anarchistische, staatsfeindliche Gruppen - die das von langer Hand geplant haben. Das zeichnet sich jetzt schon ab.
DOMRADIO.DE: Joe Biden ist seit knapp einem Jahr im Amt. Wegen des unglücklichen Rückzugs der US-Soldaten aus Afghanistan hat er bereits mächtig an Ansehen eingebüßt. Wie bewerten Sie seine bisherige Bilanz?
Brüntrup: Ich denke, er hat in ein - zum Ende der Trump-Zeit sehr zerrissenes - Land ein bisschen Ruhe reingebracht. Und das ist schon mal sehr sehr viel. Damals gingen von beiden Seiten die Leute auf die Straße und es gab viel Gewalt. Das hat deutlich abgenommen und das ist schon mal viel.
Er hat aber natürlich auch Fehler gemacht. Der Abzug aus Afghanistan wird ihm durch alle Parteien hindurch als ein Desaster angekreidet, sodass seine Lage nicht gut ist. Das kann man schon sagen. Die Zustimmung ist nicht hoch und seine Lage ist nicht gut.
DOMRADIO.DE: Im November stehen Kongresswahlen an. Die Demokraten könnten ihre hauchdünne Mehrheit einbüßen. Sie kennen Joe Biden persönlich und schätzen ihn. Was würden Sie ihm raten? Was muss er jetzt unbedingt vorher noch schaffen, um wieder Menschen für sich einzunehmen?
Brüntrup: Ich denke, das Entscheidende sind die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie. Die sind viel stärker als bei uns, weil das soziale Sicherheitsnetz in den USA nicht so stark ist. Etwa für die Restaurants oder für viele Beschäftigte, die abhängig sind von Industrien oder Unternehmungen, die von Corona beeinflusst wurden und ihre Jobs verloren haben.
Wenn er aus der Corona-Krise ökonomisch stark herauskommt, hat er eine gute Chance. Das ist der Lackmustest: kommt Amerika aus der Corona-Krise ökonomisch stark heraus.
Das Interview führte Hilde Regeniter.