Das schreibt Kasper in einem Gastbeitrag in der "Zeit" (Donnerstag). Als drängende Probleme nannte er einen "neuen Nationalismus, Terrorismus und eine himmelschreiende, den Weltfrieden bedrohende Ungerechtigkeit". Die ökologische Krise bedrohe die Zukunft des Planeten und habe zur weltweiten Flüchtlingskrise geführt; "dazu kommt jetzt die Pandemie".
Das neue Papstschreiben "Fratelli tutti", das am Sonntag veröffentlicht wird, sei über den Kreis der katholischen Kirche hinaus "an alle Menschen guten Willens" adressiert, so der Kardinal. Zugleich werde Franziskus darin "die religionspolitische und friedenstiftende Dimension des christlichen Glaubens weiter bekräftigen". So solle die Enzyklika zeigen, "dass die Stärke einer freiheitlichen Gesellschaft daran sichtbar wird, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder umgeht." Dies gelinge nur dann, "wenn wir nicht das eigene Ego zum alleinigen Kriterium machen, sondern auch den in seiner ethnischen, kulturellen, auch in seiner erotischen Orientierung Anderen in seiner Andersheit anerkennen und solidarisch füreinander einstehen."
Nur an die Brüder?
Kasper verteidigte auch den Titel der Enzyklika, "Fratelli tutti". Dieser war im Vorfeld auf Kritik gestoßen, weil er sich vermeintlich nur auf "Brüder" (fratelli) bezieht. Kasper verwies auf den Ursprung der Formulierung in einem Zitat von Franz von Assisi (1181/82-1226) und auf den biblischen Sprachgebrauch, bei dem "Brüder" inklusiv zu verstehen sei. Zudem betonte der Kardinal, das Papstschreiben richte sich besonders an Frauen, weil sie "mit ihren Kindern in Krieg, Armut und auf der Flucht die besonders Leidtragenden" und zugleich oftmals Hoffnungsträgerinnen seien.
Seit seinem ersten Rundschreiben von 2013 habe die Freude an Franziskus' Pontifikat "bei vielen Katholiken in Deutschland nachgelassen", schreibt Kasper weiter. Dabei sei der Papst "nach wie vor" ein Reformer: "Der Fehler war, dass viele ihre westlichen Reformwünsche auf ihn projiziert haben, die so nicht in Erfüllung gegangen sind." Er sei kein liberaler Reformer, sondern einer, der an die Wurzel des Evangeliums gehe. Das Evangelium wiederum sei für Franziskus weder ein "sozialpolitisches Programm" noch "weltfremdes frommes Gesäusel", sondern eine Heilsbotschaft, die bisweilen unbequeme Konsequenzen für den Alltag nach sich ziehe.