DOMRADIO.DE: Eine Reise in die Ukraine. Das ist dieser Tage ja doch etwas sehr Besonderes. Wie war diese Reise für Sie? Wie nehmen Sie zum Beispiel die Sicherheitslage vor Ort wahr?
Rainer Maria Kardinal Woelki (Erzbischof von Köln): Die Sicherheitslage ist sehr divers gewesen. Wir haben in Kiew eigentlich jeden Tag mehrfach Raketenalarm gehabt. Und das Komische war eigentlich, dass viele Menschen sich augenscheinlich schon so sehr an diese Situation gewöhnt haben, dass sie einfach ihren Geschäften und Besorgungen weiter nachgegangen sind.
Auf der anderen Seite ist es wohl auch ein großes Vertrauen in die Patriotsysteme, die insbesondere Kiew schützen sollen. Es gibt Auflagen, dass Kinder und Jugendliche Schutzräume bei Alarm aufzusuchen haben. Und bei einigen unserer Termine waren wir eben gerade auch mit Kindern und Jugendlichen zusammen und mussten dann mit ihnen auch bei Luftalarm in den Schutzraum gehen. Also die Erfahrungen sind durchaus sehr zwiespältig.
Auch als wir dann mit dem Nachtzug von Kiew nach Lviv fuhren, ist unser Zug gewissermaßen mit einem Luftalarm aus dem Bahnhof herausgeholt worden. Aber es ist nicht so, dass ich mich jetzt hier sehr unsicher gefühlt hätte. Es ist wichtig gewesen, dort zu sein. Wichtiger als alle mögliche eigene Bedrohung war die Begegnung mit den Menschen und denen ein Zeichen der Hoffnung und des Mutes zuzusprechen.
DOMRADIO.DE: Sie haben viele Gespräche mit vielen Menschen in der Ukraine geführt. Welchen Eindruck haben diese Menschen denn auf sie gemacht? Ist da eher die Resignation, die Verzweiflung vorherrschend? Oder ist da auch Hoffnung da?
Woelki: Natürlich sind viele Menschen müde. Die meisten wollen einfach nur, dass dieser Krieg aufhört. Aber nicht um jeden Preis. Sie wollen Freiheit. Sie wollen Unabhängigkeit. Sie wollen Souveränität haben. Und sie berichten immer wieder davon, dass sie in ihrer Geschichte unterdrückt worden sind und dass ihnen diese Freiheit als Nation immer wieder genommen worden ist. Und das wollen sie so nicht mehr hinnehmen.
Deshalb sind viele bereit, eigentlich alles zu geben um dieser Freiheit willen. Das heißt eben für viele tatsächlich auch ihr Leben. Und das Erschreckende ist, dass dann die Menschen, die zurückbleiben, natürlich ungeheuer darunter leiden und auf der anderen Seite dann auch die Gefallenen in einer Weise ehren, die uns eigentlich unvorstellbar ist, mit welcher Ehrfurcht sie diesen begegnen und mit welcher Hochachtung sie ihnen begegnen, weil es für sie wirklich Freiheitskämpfer sind. Und sie verehren sie eigentlich als Helden.
Das ist etwas, was uns sehr fremd ist, vielleicht wegen unserer eigenen Geschichte. Ich tue mich damit persönlich auch sehr schwer, aber ich kann hier nur mit einem großen Respekt vor diesen Menschen stehen. Sie haben Mut und Hoffnung für die Zukunft. Und deshalb sagen sie, das was unsere Gefallenen gegeben haben, dass sie mit ihrem eigenen Leben für diese Freiheit unseres Landes eintreten, das darf nicht umsonst sein. Deshalb müssen wir in die Zukunft gehen, aber nur in Freiheit.
DOMRADIO.DE: Sie kommen aus dem Westen. Mit welchen Erwartungen gehen die Menschen denn auf Sie zu? Was äußert man Ihnen gegenüber?
Woelki: Sie erwarten zunächst einmal natürlich, dass wir Solidarität üben, dass wir sie nicht vergessen. Dass wir uns nicht an diesen Krieg gewöhnen und nicht irgendwie aufstöhnen bei den Nachrichten und dann zur Tagesordnung übergehen.
Sie erwarten und erhoffen sich auch die Unterstützung bei einem Friedensprozess. Sie erwarten und erhoffen sich vor allen Dingen, dass Sie tatsächlich dieselben Freiheiten genießen können oder erfahren, die uns so selbstverständlich sind, dass sie auch in der EU leben können. Selbstbestimmtheit, Souveränität, dass sie einen Frieden haben in Gerechtigkeit.
Sie erwarten, dass wir politisch einfordern, dass die Gefangenen freigelassen werden. Ich bin vielen Menschen begegnet. Mütter, die seit anderthalb Jahren nichts mehr von ihren Kindern, von ihrem Sohn gehört haben. Die weinten bitterlich. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen. Sie wissen nicht, ob er gefallen ist. Sie leben jeden Tag in der Ungewissheit. Lebt er noch? Ist er da? Ist er verletzt? Oder ist er gestorben? Was ist mit ihm irgendwo an der Front passiert?
Diese Ungewissheit macht die Menschen kaputt. Und sie erwarten, dass wir in der Öffentlichkeit, auch in der politischen Öffentlichkeit einfordern, dass wir uns an die Genfer Konventionen halten und dass auch die Gefangenen ihre Rechte erhalten. Und das vor allen Dingen, diejenigen, die hier zurückgeblieben sind, erfahren, was mit ihnen passiert ist.
DOMRADIO.DE: Auf der anderen Seite fordern sie wahrscheinlich auch, dass wir sie im Krieg unterstützen. Wie stehen Sie einer solchen Forderung gegenüber? Oder ist die gar nicht an Sie herangetragen worden?
Woelki: Mich hat keiner darauf angesprochen, dass wir Waffen zu liefern haben. Ich bin hier nicht als Politiker. Das ist nicht meine Baustelle. Ich bin hier als Bischof, und ich kann den Menschen nur einen geistlichen Trost, einen Trost aus dem Glauben heraus geben und ihnen dort eine Hoffnung schenken.
Ungeachtet dessen muss ich natürlich auch sagen und wahrnehmen, dass die meisten davon überzeugt sind, dass es keine Alternative zu einem solchen Kampf gibt, den sie als einen Freiheitskampf erleben. Und es muss ganz klar sein: das ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg. Und egal was im Vorfeld passiert ist und sein mag, es ist eine Nation und das ist die russische Nation, die völkerrechtswidrig einen anderen souveränen Staat überfallen hat.
Ich persönlich bin davon überzeugt, dass Waffen letztlich keinen Frieden schaffen. Und ich bin als Glaubender und als Bischof davon überzeugt, dass die stärkste Waffe in diesem Kampf das Gebet ist, weil wir den Himmel mit dem Gebet und damit eben Gott bestürmen können, der über andere Möglichkeiten verfügt, als Menschen verfügen.
Das Morden und das Töten muss aufhören. 300 bis 400 Tote jeden Tag sind ein Unding. Und die Priester sagen hier, dieses Feld ist mit Gefallenen neu gewachsen. Ein Tag, an dem es keine Beerdigung gibt, ist für sie ein Festtag. Das muss ein Ende haben. Und die Diplomatie und das Gespräch kann im Letzten hier nur zum Frieden führen, und zwar zu einem Frieden in Gerechtigkeit.
Das Interview führte Bernd Hamer.