DOMRADIO.DE: Herr Kardinal, ein Priester des Erzbistums Köln konnte trotz einer rechtskräftigen Verurteilung wegen "fortgesetzter Unzucht mit Minderjährigen" und einer Gefängnisstrafe über viele Jahre wieder in der Seelsorge arbeiten. Er wurde zwischen drei Bistümern regelrecht hin- und hergeschoben. Wie erklären Sie sich das?
Rainer Maria Kardinal Woelki (Erzbischof von Köln): Wir sollten da nicht um den heißen Brei herumreden, sondern es klipp und klar aussprechen: Hier hat ein Priester Menschen schlimmes Leid zugefügt, und seine Vorgesetzten haben es zugelassen, dass er immer wieder mit Menschen in der Seelsorge in Berührung kam, auch mit Kindern und Jugendlichen, die ja nicht ahnen konnten, dass es sich hier um einen vorbestraften Mann handelt. Das ist auf jeden Fall falsch gewesen. Wir müssen die Zusammenhänge gründlich aufklären.
Es liegt auf der Hand, dass Personen hier ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind und Kinder und Jugendliche wissentlich einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt haben. Deshalb will ich schon jetzt alle Betroffenen um Vergebung bitten. Ich schäme mich für das, was hier geschehen ist.
DOMRADIO.DE: Steht die Zahl der Betroffenen schon fest?
Kardinal Woelki: Das kann im Augenblick nicht zuverlässig beantwortet werden. Denkbar ist ja auch, dass sich jetzt weitere Betroffene zu Wort melden. Leider wissen wir inzwischen aus Erfahrung, dass sich nach dem Bekanntwerden solcher Fälle weitere Betroffene melden, die oft über Jahre und Jahrzehnte geschwiegen haben und erst jetzt den Mut finden, sich zu Wort zu melden. Aus meinen Gesprächen mit Betroffenen und dem Betroffenenbeirat, den wir hier eingerichtet haben, weiß ich, wie viel Mut und Kraft es kostet, nach langem Schweigen über das zu sprechen, was einem angetan worden ist. Umso dankbarer bin ich für das Mitwirken der Betroffenen hier im Erzbistum Köln am Aufklärungsprozess, zu dem es keine Alternative gibt.
DOMRADIO.DE: Wird man auch über diejenigen mehr erfahren, die Verantwortung dafür tragen, dass der Priester immer wieder in der Seelsorge eingesetzt wurde?
Kardinal Woelki: Auf jeden Fall! Es ist unabdingbar, dass wir hier konkret benennen, was passiert ist und wer an welcher Stelle Verantwortung für die entsprechenden Entscheidungen trägt. Die Namen der Verantwortlichen werden veröffentlicht. Natürlich liegen die Entscheidungen und auch die Taten des Pfarrers A. zum Teil Jahrzehnte zurück, viele der Verantwortlichen dürften inzwischen verstorben sein.
Aber es ist durchaus denkbar, dass auch diejenigen von uns, die heute Verantwortung tragen, eigene Fehler einräumen müssen. Ich bin mir mit meinen Mitbrüdern in Essen und Münster völlig einig, dass wir hier auf konsequente Aufklärung bestehen müssen und individuelle Verantwortung benennen wollen.
DOMRADIO.DE: Wann wird die Öffentlichkeit dazu mehr erfahren?
Kardinal Woelki: Ich habe ja im letzten Jahr eine unabhängige Untersuchung des sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Köln in Auftrag gegeben. Eine Anwaltskanzlei in München, die sehr viel Erfahrung in diesen Dingen hat, hat von uns sämtliche Akten zur Verfügung gestellt bekommen und wird im nächsten Frühjahr einen umfassenden Bericht vorstellen.
Wir nehmen auf die Untersuchung und den Abschlussbericht keinen Einfluss. Die Experten haben den Auftrag, die Frage zu beantworten, inwieweit Vorgesetzte gegen staatliches oder kirchliches Recht verstoßen haben und ob auch strukturelle Voraussetzungen im Erzbistum Köln den sexuellen Missbrauch begünstigt haben. Es ist ein sehr weitreichendes Mandat. Dieser Bericht wird nach derzeitigem Stand im März nächsten Jahres veröffentlicht.
DOMRADIO.DE: Wie sicher sind Sie, dass sich ein solcher Fall in der Kirche heute nicht mehr wiederholen kann?
Kardinal Woelki: Es hat sich inzwischen viel getan, in der Kirche insgesamt, aber auch gerade bei uns im Erzbistum Köln. Die unabhängige Untersuchung, mit der die Missbrauchsfälle jetzt konsequent aufgeklärt werden, ist ja nur ein Baustein in einem weitreichenden Konzept, das darauf abzielt, das Risiko sexueller Übergriffe zu minimieren. Dazu gehören etwa die Präventionsschulungen, bei denen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber auch unsere Schülerinnen und Schüler an den Erzbischöflichen Schulen für das Thema sensibilisiert und gründlich geschult werden.
Dazu gehört auch eine ganz andere Herangehensweise in der Ausbildung der Priester, in der Fragen der Sexualität heute offen thematisiert werden. Und vor allem gehört dazu eine Selbstverpflichtung, allen Hinweisen auf sexuellen Missbrauch konsequent nachzugehen und bei allen glaubwürdigen Vorwürfen die Staatsanwaltschaft einzuschalten, damit die Kirche sich auch klar unter die Kontrolle der staatlichen Ermittlungsbehörden stellt. Der Betroffenenbeirat hilft uns außerdem, aus der Sicht der Betroffenen Prävention und Aufklärung zu verbessern.
DOMRADIO.DE: Sie haben also alles getan, was man tun kann?
Kardinal Woelki: Wir müssen noch mehr tun und lernen immer noch dazu. Ich hoffe, dass uns die unabhängige Untersuchung hilft, noch besser zu erkennen, was wir tun können, um sexuellen Missbrauch so gut wie unmöglich zu machen. Wir dürfen nicht müde werden, auch wenn uns dieses Thema nun schon lange beschäftigt. Die Betroffenen, aber überhaupt alle Gläubigen und die ganze Öffentlichkeit, erwarten von uns zu Recht, dass wir das Menschenmögliche im Kampf gegen den sexuellen Missbrauch tun. Am Ziel sind wir noch lange nicht, und zur Selbstzufriedenheit gibt es keinen Grund. Im Gegenteil, Fälle, wie der jetzt bekannt gewordene, erinnern uns daran, dass die Aufklärung der Vergangenheit noch längst nicht abgeschlossen ist.
Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen.