Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Kardinal Woelki, was steht am 10. Juni für 21.00 Uhr in Ihrem Kalender?
Rainer Maria Kardinal Woelki (Erzbischof von Köln): Den ganzen Tag über bin ich bei einer Konferenz und muss danach sicher noch an den Schreibtisch. Aber ich hoffe, abends das EM-Eröffnungsspiel im Fernsehen zu sehen.
KNA: Am 10. Juli ist das Endspiel. Glauben Sie, dass die deutsche Mannschaft eine Chance hat?
Kardinal Woelki: Wir haben einen guten Kader zusammen. Und Deutschland ist eine Turniermannschaft, die sich von Spiel zu Spiel steigert. Aber gewinnen soll die Mannschaft, die den besten Fußball übers gesamte Turnier spielt. Frankreich oder Spanien etwa darf man nicht unterschätzen. Wenn die deutsche Mannschaft siegt, würde ich mich natürlich sehr freuen.
KNA: In der Gruppe C mit Nordirland, Ukraine und Polen kommen die Deutschen aber weiter.
Kardinal Woelki: Auf jeden Fall.
KNA: Lässt Ihr Tagesprogramm es überhaupt zu, das Turnier zu verfolgen?
Kardinal Woelki: Sicher kann ich längst nicht jedes Spiel sehen. Bei der WM 2014 ging das wundervolle 7:1-Spiel zwischen Deutschland und Brasilien an mir vorbei, weil ich damals als Berliner Erzbischof eine dringende Besprechung wegen der Planungen für die Sankt-Hedwigs-Kathedrale hatte. Als Zwischenergebnisse zu uns gedrungen sind, habe ich diese für Witze gehalten. Ich habe damals gelitten wie ein Hund, dass ich das verpasst habe.
KNA: Muslim Mesut Özil postet ein Bild von sich als Mekka-Pilger, Sami Khedira hat neben der deutschen die tunesische Staatsbürgerschaft. Die Nationalmannschaft ist eine bunte Truppe...
Kardinal Woelki: ...wie inzwischen die deutsche Gesellschaft überhaupt. Und das ist auch gut und richtig so. Eine Stärke des Fußballs ist seine Integrationskraft. Und das fängt schon bei den kleinen Dorfmannschaften an. Da ist der Fußball eine wirkliche Alternative für Deutschland.
KNA: Ansonsten aber gibt der Fußball derzeit oft kein gutes Bild ab, etwa wegen der Korruptionsskandale. Kann Ihnen die Freude am Sport da auch mal vergehen?
Kardinal Woelki: Eigentlich nicht. Natürlich hängen Geschäft und Profifußball zusammen. Aber im Stadion oder am Fernsehen bin ich einfach nur begeisterter Fan und vergesse alles Drumherum. Wenn ich dann nüchtern und sachlich auf den Fußball schaue, kommen natürlich andere Aspekte ins Spiel. Es ist ja völlig richtig, wenn der DFB Kampagnen gegen Drogen und für gegenseitigen Respekt auflegt. Aber zu diesem moralischen Anspruch passt es nicht, wenn Gelder hin und her geschoben werden, um sich Weltmeisterschaften oder andere Vorteile zu erkaufen.
KNA: Was müsste sich im Funktionärswesen ändern?
Kardinal Woelki: Die Funktionäre müssen sich an das halten, was für die Fußballer selbst gilt: Über allem muss das Fairplay stehen. Übertragen auf die Funktionäre heißt das, bei allen ökonomischen Zwängen des Sports muss man auch immer den eigenen ethischen Ansprüchen gerecht werden.
KNA: Nach den Missbrauchsskandalen hat die Kirche strukturelle Maßnahmen ergriffen und etwa Missbrauchsbeauftragte eingesetzt. Müsste Vergleichbares nicht auch beim Fußball geschehen?
Kardinal Woelki: Der Rücktritt einiger Funktionäre ist schon mal gut. Und ich hoffe, dass die FIFA ihre Skandale aufarbeitet - und dabei auch Sachverstand von außen holt. Bei der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals hat sich das bewährt. Auch dem Fußball täten Fachleute gut, die mit dem System nichts zu tun haben.
KNA: Die WM 2018 findet in Russland statt, die 2022 in Katar. Beides sind Länder mit rechtsstaatlichen Defiziten. Wie sehen Sie das?
Kardinal Woelki: Zweischneidig. Großveranstaltungen wie WM, EM oder Olympische Spiele rücken solche Staaten in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Dadurch bietet sich ja auch eine Chance - nämlich Negativseiten wie Menschenrechtsverletzungen oder die Nichtachtung der Pressefreiheit anzuprangern. Die WM-Vergabe an Katar finde ich allerdings absolut skandalös. Katar hat noch nie eine Rolle im Fußball gespielt. Und ich bin entsetzt darüber, wie Gastarbeiter mit falschen Versprechungen für den Stadionbau ins Land geholt und dort wie Tiere untergebracht werden. Wegen der miserablen Arbeitsbedingungen sind immer wieder Todesopfer zu beklagen. Ich hätte es mir gewünscht und würde es mir immer noch wünschen, dass die FIFA die WM woanders stattfinden lässt.
KNA: Viele Fans beten für ihre Mannschaft und beschwören den Fußballgott...
Kardinal Woelki: Da bin ich Atheist. Ich glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist und er jeden Menschen liebt - auch jeden Fußballspieler und jeden Fan. Er liebt aber keine Mannschaften und dreht nicht daran, dass der Lattenschuss doch noch mit Drive hinter die Torlinie fällt.
KNA: Fungiert der Fußball nicht für viele als Ersatzreligion?
Kardinal Woelki: Klar. Wir brauchen alle etwas, woran wir uns festhalten können. Nicht wenige erfahren im Fußball Gemeinschaft, Identität und Halt. Denken Sie nur an die Kölner Südtribüne oder die gelbe Wand in Dortmund. Fußball macht ein Leben vielleicht für Augenblicke froh oder schmerzvoll. Aber im Letzten kann der Fußball nur einen vorläufigen Halt bieten. Wir Menschen leben von den Fragen: Woher komme ich, was macht mich und mein Leben aus, wohin gehe ich? Auf diese wesentlichen Fragen des Lebens hat der Sport keine Antworten. Da ist der Pass, den der Fußball schlagen kann, zu kurz.
KNA: Vermissen Sie in der Kirche die Begeisterung, die im Stadion zu spüren ist?
Kardinal Woelki: Da kann die Kirche vom Fußball lernen. Erfolg hat eine Mannschaft nur, wenn sie zusammensteht, wenn alle Pressing spielen und auch die Verteidiger nach vorne aufrücken. Diesen Teamgeist wünsche ich mir für die Kirche - in den Gemeinden und unter den pastoralen Mitarbeitern. Vor allem muss die Kirche wie eine Mannschaft eine Vision haben und möglichst hoch in der Tabelle kommen wollen. Übersetzt heißt das, unser Leben stärker in Christus zu verankern und unsere Begeisterung anderen Menschen mitzuteilen.
KNA: Und was kann der Fußball von der Kirche lernen?
Kardinal Woelki: Unser Bemühen, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und ihm mit Wertschätzung und Respekt zu begegnen.
KNA: Wenn Sie sich auf dem Spielfeld eine Position aussuchen könnten, welche wäre das?
Kardinal Woelki: Als Kind war für mich Wolfgang Overath ein Vorbild, wie er beim 1. FC Köln aus dem Mittelfeld heraus geniale Pässe spielte und Mitspieler in Position brachte. Auch ich fühle mich als Teamplayer, der ein Auge haben muss für den anderen, der besser steht und den Ball ins Tor bringen kann.
KNA: Der Kirche geht es ja auch um Gerechtigkeit. Wie würden Sie sich als Schiedsrichter fühlen?
Woelki: Wenn ich Schiedsrichter wäre, würde ich auf die Spiele des 1. FC Köln in der gerade abgelaufenen Saison blicken und als erstes denken, dass es auf Erden eine Reihe von Fehlentscheidungen und keine letzte Gerechtigkeit gibt. Dann würde ich auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen.