Seine erste internationale Dienstreise machte Papst Franziskus 2013 nach Rio de Janeiro, der Gastgeberstadt des damaligen Weltjugendtages. Das erste Kirchenoberhaupt aus Lateinamerika sollte für eine neue Begeisterung auf dem Kontinent sorgen, der besonders wichtig für die katholische Kirche ist. Tatsächlich war die Reise ein Erfolg; Hunderttausende jubelten dem Papst an der Copacabana zu.
Katholische Kirche verliert an Boden
Mehr als acht Jahre und einige Papstreisen nach Lateinamerika später sprechen die Zahlen jedoch eine andere Sprache. Die katholische Kirche verliert in Lateinamerika an Boden. Laut Umfrage des Brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik (IBGE) betrug der Anteil der Katholiken in Brasilien im Januar 2020 etwa 51 Prozent - während der der Evangelikalen auf 31 Prozent stieg. Die Menschen wenden sich also nicht ganz vom Christentum ab, sondern wechseln die Konfession.
In Rio, der Stadt des Weltjugendtags 2013, sind die Katholiken inzwischen bereits in der Minderheit. "Der Vatikan verliert das größte katholische Land der Welt - ein riesiger, unumkehrbarer Verlust", sagte Jose Eustaquio Diniz Alves, ein führender brasilianischer Demograf und leitender Forscher am IBGE, dem "Wall Street Journal".
Dramatischer Verlust
Und Brasilien ist bei weitem kein Einzelfall. "Latinobarometro", ein in Chile ansässiges Meinungsforschungsinstitut, kommt zum Ergebnis, dass in sieben weiteren Ländern Katholiken bereits in der Minderheit sind: in Uruguay, der Dominikanischen Republik und fünf Ländern Mittelamerikas. Das ist für die Kirche umso mehr besorgniserregend, als Lateinamerika und die Karibik eine Kernregion des katholischen Glaubens im 21. Jahrhunderts ist. Laut Vatikanangaben sind hier rund 40 Prozent der Katholiken weltweit zu Hause.
Der Verlust ist dramatisch: Allein von 1995 bis 2018 ging der Bevölkerungsanteil der Katholiken in dieser Weltregion von 80 Prozent auf 58 Prozent zurück. Rund 20 Prozent bezeichnen sich als Protestanten, davon zwei Drittel als Angehörige der Pfingstkirchen. Diese Kirchen vertreten vor allem in der Wirtschaftspolitik in der Regel konservativere Positionen als die katholische Kirche. Die Gründe für das Abwandern sind vielfältig. Auch in Lateinamerika gab es gravierende Missbrauchsskandale wie jener in Chile, der zu einem kollektiven Rücktrittsangebot der Bischofskonferenz führte.
Konkurrenz durch evangelikale Kirchen
Hinzu kommt eine immer mächtigere Konkurrenz durch evangelikale Kirchen, die eine breitere und flexiblere Präsenz in den Armenvierteln zeigen und Menschen aus den einkommensschwachen Regionen neben spiritueller auch materielle Hilfe versprechen. Mehr und mehr Indigene stellen zudem mehr als 500 Jahre nach der Kolonialisierung die Legitimität der christlichen Evangelisierung in Lateinamerika in Frage.
Dazu kommt, dass der Reformprozess von Papst Franziskus für Unsicherheit sorgt. "Unter einem liberalen Papst haben die Liberalen die Kirche verlassen", urteilte der Theologe Alexander Görlach bereits 2021 in einem Beitrag für die Deutsche Welle. Der Papst habe seine Reformvorhaben nicht durchbringen können.
In der Kirche selbst gibt es Machtkämpfe zwischen den konservativen und den progressiven Flügeln. Mit der Sympathie des Papstes für linke Wirtschaftsmodelle können konservative Katholiken nichts anfangen; von seiner ablehnenden Haltung gegenüber einer Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen sind progressive Kräfte enttäuscht.
Verlust von politischem Einfluss
Auch politisch hat diese Entwicklung Konsequenzen. Die Wahl des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro in Brasilien 2018 hängt mit dem Erstarken der evangelikalen Kirchen zusammen, die als seine Basis gelten. Beobachter in Kolumbien gehen davon aus, dass die Ablehnung des Friedensvertrags beim Referendum 2016 auch zu Teilen auf die Kritik aus evangelikalen Kirchen zurückzuführen war.
In Costa Rica scheiterte 2018 der rechts-evangelikale Kandidat Fabricio Alvarado bei den Präsidentenwahlen. Nun liegt Alvarado laut Umfragen für den Wahlgang im kommenden Februar leicht vorn. Die katholische Kirche verliert nicht nur Gläubige, sondern auch Einfluss auf Politik und Gesellschaft.