Katholischer Vertriebenenverband verteidigt Charta der Vetriebenen

"Im zeitlichen Kontext sehen"

Vertriebenen-Präsidentin Erika Steinbach hat am 50. Jahrestag der Unterzeichnung Kritik an der Charta der Vetriebenen als "nicht tragfähig genug" zurückgewiesen, weil sie nicht die historische Bedeutung beachteten. Matthias Dörr, Bundesgeschäftsführer der katholischen Vertriebenenorganisation "Ackermann-Gemeinde" fordert im domradio.de-Interview, die Charta im zeitlichen Kontext zu sehen.

 (DR)

domradio.de: Bei diesem Jahrestag handelt es sich um ein nicht ganz unproblematisches Jubiläum. Wie sehen Sie das?
Matthias Dörr: Ich glaube, man muss dieses Jubiläum auch im zeitlichen Kontext sehen, also 1950, fünf Jahre nach dem Krieg. In der alten Bundesrepublik lebten etwa 10 Millionen Vertriebene, viele von ihnen noch in Notunterkünften und Lagern. Wenn man heute über dieses Ereignis urteilt, muss man diesen historischen Zusammenhang sehen. Diese Verletzungen, die durch den Verlust der Heimat und den Verlust von Hab und Gut, ja teilweise auch durch den Verlust der Würde entstanden, die waren damals noch sehr präsent. Diese Rahmenbedingungen muss man bei der heutigen Beurteilung berücksichtigen.

domradio.de: Wie fühlen sich die Vertrieben denn heute? Fühlen sie sich auch nach so vielen Jahren noch als Vertriebene?
Dörr: Die Vertriebenen unterscheiden sich auch heute noch von den "einheimischen" Deutschen. Einmal existieren immer noch die Verletzungen und Traumata durch den Heimatverlust und auch durch die erlebten Verbrechen. Das tritt oft im Alter wieder zutage. Deshalb bricht nach Jahrzehnten sehr vieles wieder auf. Das sieht man auch daran, dass Flucht und Vertreibung der Deutschen in den letzten Jahren in unserer Gesellschaft ein großes Thema waren. Es ist eben dieses gestörte Rechtsempfinden, das es noch gibt und das sich auch politisch instrumentalisieren lässt. Das zweite ist, dass die Vertriebene noch eine besondere Verbundenheit mit dem Osten haben, also mit einer Region, die über Jahrzehnte durch den Eisernen Vorhang von uns abgetrennt war und die deshalb bei vielen Bundesdeutschen, gerade in Westdeutschland nicht im Bewusstsein war - ein Bewusstsein, das jetzt sehr langsam zurückkommt. Aber bei den Vertriebenen war diese Region, die ja engstens mit Deutschland verbunden ist, immer im Bewusstsein. Ich glaube, aus dieser Verbundenheit Richtung Osten ergibt sich eine sehr große Chance. Dieses Vertriebensein hat auch durchaus Auswirkungen auf die Nachgeborenen, vielleicht sogar stärker auf die Enkel- als auf die Kindergeneration. Diese Traumata und Verletzung vererben sich fort, wie aktuelle Forschungen zeigen, aber eben auch diese Verbundenheit zu einer Region im Osten von Europa. So gesehen, wird es keine "biologische" Lösung geben, wie von manchen Seiten vielleicht sogar erhofft.

domradio.de: Verzicht auf Rache und Vergeltung - das war ein Punkt der Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Hat das nicht etwas Skurriles, wenn ausgerechnet Deutsche damals auf Rache und Vergeltung verzichteten? Wäre Reue nicht angebrachter gewesen?
Dörr: Das kann man aus heutiger Sicht vielleicht sagen, aber ich würde noch einmal an die Situation von 1950 erinnern: Damals war die gesamte deutsche Bevölkerung noch nicht in der Lage, der Opfern des Holocaust bzw. der Opfer des Krieges zu gedenken - dieser Krieg, der ja unendliches Leid über Europa gebracht hat und von Deutschland ausging. Entscheidend ist, dass man aus der Situation von 1950 heraus bewusst gesagt hat: Wir wissen um diesen Teufelskreis aus Rache und Vergeltung, wir wollen ihn durchbrechen. Wir sehen eine Zukunft in Europa, und zwar in einem freien und vereinten Europa. Heute muss man ganz klar sagen: Die Vertreibung darf nicht aus dem historischen Kontext gelöst werden, die Deutschen dürfen nicht nur als Opfer gesehen werden. Es gibt unzählige Opfer, die durch Deutsche zu Tode kamen. Auschwitz ist dafür das große Symbol.

domradio.de: Ein weiterer Punkt der Charta war der Wille zu einem versöhnten Europa. Die Versöhnung fällt aber vielen Vertriebene bis heute nicht einfach. Hat die Charta die Kraft, gültig zu werden?
Dörr: In sehr vielen Fällen ist sie wahr und gültig geworden. Gelungen ist sicher die Integration, auch im Bereich der Versöhnung ist sehr viel gelungen. Die Vertriebene und ihre Nachkommen sind die geborenen Brückenbauer und haben diese Funktion in sehr vielen Fällen eingenommen. Ich arbeite v.a. im deutsch-tschechischen Bereich, dort engagieren sich sehr oft, sogar in den meisten Fällen Personen, die einen entsprechenden biografischen Hintergrund haben, der mit der deutschen Vergangenheit in Böhmen zusammenhängt. Interessant ist, dass gerade in den Nachbarländern, in Polen und in Tschechien, v.a. junge Leute, aber auch Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler sich immer mehr für die deutsche Vergangenheit ihrer jetzigen Heimat interessieren. Da bieten sich sehr viele Anknüpfungspunkte.

Interview: Aurelia Plieschke