Der Freiburger Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen hat 2019 eine große Studie zur Zukunft der Kirchen geleitet. Danach sinken bis 2060 sowohl die Mitgliederzahlen als auch das Kirchensteueraufkommen auf etwa die Hälfte. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht er darüber, ob die erwarteten Einbrüche durch die Corona-Krise die Entwicklung weiter verschärfen könnten.
Katholische Nachrichten-Agentur (KNA): Professor Raffelhüschen, Experten erwarten einen gewaltigen Einbruch der Steuereinnahmen durch die Corona-Krise. Für 2020 ist von rund 100 Milliarden Euro und minus 13 Prozent die Rede. Was bedeutet das für die Kirchen?
Bernd Raffelhüschen (Finanzwissenschaftler): Prinzipiell folgt die Kirchensteuer als Steuer auf die Lohn- und Einkommenssteuer der allgemeinen Entwicklung. Allerdings gibt es ein paar Vorbehalte. Denn der Steuerschätzkreis hat wohl die optimistischste aller Varianten gewählt, den V-förmigen Verlauf der Konjunktur, und ist dabei auf diese Zahlen gekommen...
KNA: V-förmig heißt, es geht wie beim entsprechenden Buchstaben steil bergab und dann genauso steil wieder nach oben?
Raffelhüschen: Exakt. Demnach würde auf den aktuellen Einbruch schon bald ein direkter Wiederaufschwung folgen. Das halte ich für optimistisch, denn mir scheint noch sehr ungewiss, ob wir nicht eine längere Phase des Einbruchs haben vor der Erholung - eher U als V - oder ob wir nicht vielleicht sogar länger am Boden liegen, bevor wir uns berappeln. Deshalb denke ich, auch bei der Kirchensteuer kommen wir wahrscheinlich nicht hin mit diesen 13 Prozent Rückgang.
KNA: Welche Zahl sehen Sie stattdessen?
Raffelhüschen: Ich bin kein Spökenkieker, ich kann nicht die Zukunft voraussehen. Aber wenn wir einen eher U-förmigen Verlauf der konjunkturellen Anpassung unterstellen und nicht das spitze V, sind wir wohl bei etwa 15 oder 16 Prozent. Und wenn wir länger am Boden liegen, eher bei 20 Prozent Ausfall. Darauf sollten wir uns einstellen.
KNA: In Ihrer Studie zu Kirchensteuern vom vergangenen Jahr, in der Sie auf eine Halbierung von Mitgliederzahl und Steueraufkommen bis 2060 gekommen sind, schauen Sie nicht nur auf die Konjunktur.
Raffelhüschen: Wir haben drei Faktoren, die das Kirchensteueraufkommen längerfristig bestimmen: Das eine ist die Demografie. Daran können wir nichts mehr drehen. Dann den Konjunkturverlauf, insbesondere die Lohn- und Einkommensentwicklung, worauf die Kirche auch keinen Einfluss hat.
Was uns wirklich umtreiben muss, sind die Austrittswahrscheinlichkeiten und die Taufwahrscheinlichkeiten. Wenn immer mehr Menschen austreten und wir es nicht mal schaffen, dass alle Kirchenmitglieder ihre Kinder taufen lassen, haben wir ein echtes Problem.
KNA: Noch mal konkreter zu den Auswirkungen der Corona-Krise: Wie kann die auf die Kirchensteuer wirken - unabhängig vom Austrittsverhalten?
Raffelhüschen: Hier muss man genau hinsehen. Der Effekt durch Kurzarbeit ist wahrscheinlich weniger entscheidend, denn die betrifft überwiegend Menschen mit eher geringerem Einkommen, die für das Gesamtaufkommen der Kirchensteuer nicht ganz so ausschlaggebend sind.
Man muss eins hier im Blick behalten: 50 Prozent aller Mitglieder zahlen gar nichts - und die obersten fünf Prozent in der Einkommensstatistik der Kirchenmitglieder zahlen mehr als 50 Prozent der Kirchensteuer. Darunter sind sehr viele Selbstständige. Da kommt es jetzt darauf an, wie stark diese Leute von der Krise getroffen werden.
KNA: Können die Kirchen die Ausfälle kompensieren? Laut Ihrer Studie hätten die Kirchen ja noch etwas Zeit und vor allem in den kommenden Jahren noch genügend Ressourcen, um eine vernünftige Umgestaltung in die Wege zu leiten. Ändert sich das durch Corona?
Raffelhüschen: Es wird ein Stück dringender, aber so massiv wird es vielleicht auch nicht kommen. Wir müssen uns eins klar machen: Beim Kirchensteueraufkommen haben wir insgesamt gesehen - aber natürlich mit großen Unterschieden zwischen einzelnen Bistümern und Landeskirchen - Ressourcen, die wir für den kurzfristigen Einbruch verwenden können. Es gibt Rücklagen, die einen V-förmigen Verlauf der Steuerausfälle relativ gut glätten können.
KNA: Und wenn das mit dem V zu optimistisch ist?
Raffelhüschen: Dann haben die Kirchen ein echtes Problem. Aber dann haben wir als Gesellschaft noch ein viel viel größeres Problem. Denn wir können nicht auf Wachstum verzichten. Sonst können wir auch keine Beatmungsgeräte mehr bauen, keine Impfstoffe entwickeln und haben auch sonst weniger Chancen, Menschen zu retten.
KNA: Was können die Kirchen dagegen tun?
Raffelhüschen: Nichts.
KNA: Das ist wenig...
Raffelhüschen: Das einzige, was wir tun können als Kirche: uns zurückbesinnen auf das, was Kirche soll. Und ich sage das nicht als Wissenschaftler, sondern als Kirchenmitglied: Wir sind hier alle zu Besuch und der Besuch war hinten am Ende des Lebens immer zu kurz. Und während des Besuchs sollten wir uns einigermaßen anständig benehmen. Und zu dem anständig benehmen gehört auch, dass man nicht Panik und Hysterie schürt, sondern auf Luther hört, der gesagt hat: Wenn ich weiß, dass morgen die Welt untergeht, pflanze ich heute noch einen Apfelbaum.
KNA: Haben sie das vermisst von den Kirchen in den vergangenen Wochen?
Raffelhüschen: Ja, sehr.
KNA: Noch eine Frage an den Wissenschaftler: Was empfehlen Sie den Kirchen angesichts des finanziellen Drucks? Weiter so, aber bei allem etwas weniger - also Kürzungen nach dem "Rasenmäherprinzip"? Oder eine Abkehr von Kitas, Schulen, Kliniken und Ähnlichem und stattdessen die Besinnung auf das Kerngeschäft: Pfarreien und Seelsorge?
Raffelhüschen: Das auf keinen Fall: Kein Rückzug in den frommen Elfenbeinturm. Schulen und Kitas gehören dazu, kirchliche Kindergärten gehören dazu. Aber da muss der Pastor auch mal hingehen. Kirche muss Präsenz zeigen in der Gesellschaft - und wo wäre das wichtiger als in einer solchen Krise. Ich glaube, die Kirche hat die Chance verpasst, Fels in der Brandung zu sein, also ein beruhigender Faktor in einer gesellschaftlichen Paniksituation.
KNA: Das haben Sie nicht gesehen?
Raffelhüschen: Nein, das habe ich vermisst in den vergangenen Wochen.
KNA: Kann man das nachholen oder ist es zu spät?
Raffelhüschen: Es ist nie zu spät. Das war auch der Kern unserer Studie. Die hat ja gezeigt, dass die Dinge, an denen wir nicht drehen können, etwa die Demografie, eigentlich untergeordnet sind. Entscheidend sind die Dinge, an denen man noch aktiv arbeiten kann für die nächste Zukunft.
Insofern war die Studie viel positiver, als sie oft aufgenommen wurde. Sie hat gesagt: Leute, wir können es noch drehen, also lasst uns anfangen. Und das gilt auch jetzt in der Corona-Krise.