DOMRADIO.DE: Ihr Podcast handelt davon, dass die Kirche auf jeden Fall systemrelevant ist, das steht für Sie außer Frage. Aber wenn wir nicht aufpassen würden, wären wir als Kirche bald wirklich nicht mehr systemrelevant, weil wir das selbst herbeireden würden, sagen Sie. Wie meinen Sie das?
Dr. Wolfgang Picken (Stadtdechant Bonn): Das wird wahrscheinlich vielen in der Kirche ähnlich gehen wie mir, dass wir uns ein wenig daran gewöhnt haben, über den Zustand der Kirche zu jammern, zu zweifeln, ob wir der Welt von heute noch etwas zu sagen haben. Wir sind intensiv mit unseren eigenen kircheninternen Problemen beschäftigt. Das führt dann sehr schnell zu der Annahme, wir seien nicht mehr systemrelevant. Das muss uns gar nicht von außen vorgehalten werden, sondern das ist eine Einschätzung, die von innen kommt.
Wenn wir das so betreiben, dann müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass wir vielleicht durch atmosphärische Dinge dieser Art oder so eine Stimmung innerhalb der Kirche, auch die Einschätzung draußen fördern, dass wir nicht mehr systemrelevant seien. Und dazu haben wir eigentlich überhaupt gar keinen Anlass.
DOMRADIO.DE: Was bedeutet eigentlich genau, "systemrelevant" sein?
Picken: Wenn wir vom deutschen System, unserer Demokratie und unserem Sozialstaat ausgehen, ist die Frage, ob es bestimmte gesellschaftliche Gruppierungen und Institutionen gibt, die dafür Sorge tragen, dass dieses System stabil und funktionsfähig bleibt.
Wenn wir jetzt mal auf die Kirchen schauen, die ja weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung abbilden, die eine der größten Sozialträger sind, die das gemeinschaftliche Leben in ganz vielen Dörfern und Stadtteilen aufrechterhalten, die einer der größten Arbeitgeber in Deutschland sind, dann zeigt sich ganz einfach, dass sie wirklich relevant für die Funktionalität unserer Gesellschaft sind.
Von daher ist es völlig irrsinnig, davon auszugehen, dass die Kirche keine Systemrelevanz besäße. Vielleicht ist sie in den letzten Jahren etwas schwächer geworden. Aber das ändert nichts daran, dass Kirche extrem einflussreich und stark ist und einen großen Beitrag dafür leistet, dass das System, in dem wir leben und das wir ja alle irgendwie auch gut für uns in Anspruch nehmen, funktionieren kann.
DOMRADIO.DE: Beschäftigen wir uns innerkirchlich mit den falschen Problemen und verschwenden so Energie?
Picken: Das wird man so nicht sagen können. Kirche hat nach innen Probleme, und die werden nicht gelöst, wenn wir sie nicht ansprechen. Von daher ist es wichtig, dass wir konstruktiv über innerkirchliche Themen sprechen. Aber das darf uns nicht dazu verleiten, uns nur noch mit den Themen zu befassen, die die meisten Leute draußen, die ja gar keinen Kirchenkontakt mehr haben, gar nicht interessiert.
Die Menschen draußen haben zum Beispiel Fragen nach dem sozialen Leben. Welche Auswirkungen haben die wirtschaftlichen Veränderungen? Viele beschäftigen sich mit der Umweltkrise, mit dem Sinn des Lebens. Das kommt bei vielen jetzt durch die Corona-Krise zutage.
Diese Themen brauchen eine Beantwortung und eine Kirche, die sie wahrnimmt: Das sind die Fragen der Zeit. Die liegen zum Teil außerhalb der direkten kirchlichen Gruppierungen. Aber sie verlangen eine Stellungnahme der Kirche. Sie verlangen eine Antwort des Glaubens, und das ist nach meinem Dafürhalten das, was jetzt von Kirche besonders gefordert ist, auch wahrzunehmen. Was wollen die Leute draußen? Was brauchen die? Mit was beschäftigen sie sich? Und haben wir aus dem Geist des Glaubens dazu etwas zu sagen?
Ich denke, viele Zukunftsprobleme, die wir gegenwärtig haben, haben Antworten, die aus dem Glauben herausgegeben werden könnten und die, ich glaube, auch bei den Menschen draußen eine hohe Akzeptanz finden könnten.
DOMRADIO.DE: Die Kirche muss die Menschen auch erreichen. Sie sind sehr aktiv in dieser Hinsicht mit ihrem Podcast "Spitzen aus Kirche und Politik". Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Picken: Die Idee dazu ist mit durch die Corona-Krise entstanden, die ja noch etwas viel deutlicher gemacht hat, was vorher schon ein kirchliches Problem war. Wir haben nur in unseren innerkirchlichen Bereich hinein gesprochen. Wenn ich spreche, spreche ich auf der Kanzel oder am Ambo und die Kirchgänger hören mir zu. Viele, die ich ansprechen möchte, finde ich im Kirchenraum nicht. Wir müssen uns schon seit langem Gedanken machen, wie wir die Leute da draußen erreichen können, damit sie auch in Kontakt mit uns kommen und dem, was wir zu sagen haben.
Corona hat das Problem extrem verschärft. Deshalb haben wir uns überlegt, wie wir die Ohren und Gedanken der Menschen und ihre Seele erreichen. Da bleibt uns nichts anderes übrig, als auch die Wege zu wählen, die heute die Menschen dafür nutzen. En Podcast ist ein, jetzt gerade auch sehr populärer und wirksamer Weg, um mit Menschen in Auseinandersetzung zu treten. Und wir stellen fest, dass das eine viel größere Wirkung erreicht, als wir uns das selbst gedacht hätten.
DOMRADIO.DE: Das heißt, es gibt schon Resonanz?
Picken: Ja, wir sind sehr erstaunt, wie viele tausende Leute ihn täglich abrufen und weiterleiten. Das heißt, die Resonanz und auch der Zuhörerkreis sind relativ groß. Das bestätigt uns auch in der Auffassung, dass es sinnvoll ist, nach draußen zu gehen. Der Zuspruch ist groß und sie geben an uns zurück, dass sie es interessant finden, dass das in die Lebenswelt, mit der sie sich gerade beschäftigen, hinein spricht. Dass wir Themen aufgreifen, die man sonst vielleicht in der Tagesschau oder in den Nachrichten liest und mit denen sich jeder beschäftigt.
Plötzlich stellen die Leute fest: Kirche ist nicht von gestern, sondern steht mitten in der Gegenwart und setzt sich mit Gesellschaft, der Zeit, Politik auseinander und hat keinen Grund zu schweigen, sondern wirklich eine Botschaft.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.