KNA: Herr Bischof, waren die Millenniumsziele Ihrer Ansicht nach ein erfolgreiches Instrument?
Ackermann: Die vorläufige Bilanz fällt aus meiner Sicht zwiespältig aus. Die Stärke der Ziele lag eindeutig darin, dass sie klar formuliert waren. Dadurch waren sie einer breiten Öffentlichkeit gut zu vermitteln und auch überprüfbar. Sie haben über 15 Jahre politische Kräfte für Armutsbekämpfung, Gesundheitsvorsorge und Primärbildung weltweit mobilisiert. Das war gut. Andererseits gab es keine Gesamtperspektive: Es fehlten Aspekte wie etwa die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit, der Umweltzerstörung oder das Ziel guter Regierungsführung. Die Verantwortung der reichen Länder zu einem partnerschaftlichen Umgang mit Entwicklungsländern wurde auf die finanziellen Beiträge beschränkt.
KNA: Was muss dann bei einer Fortschreibung verbessert werden?
Ackermann: Schon bei der Ausarbeitung der Milleniumsziele war ein Kritikpunkt, dass Akteure aus den Entwicklungs- und Schwellenländern nicht einbezogen waren. Dabei gibt es durchaus Konzepte von Gemeinwohlorientierung oder nachhaltigen Lebensstilen, die nicht in westlich geprägten Gesellschaften entwickelt worden sind. Wir sehen auch, dass die Zivilgesellschaften stärker geworden und weltweit besser vernetzt sind. Sie fordern mehr Beteiligung und könnten sich durchaus in die Überprüfung der Umsetzung einbringen.
KNA: Brauchen die neuen Entwicklungsziele auch eine ethische Begründung?
Ackermann: Einerseits rückt die Welt zusammen, andererseits gibt es verschärfte Gegensätze. Da ist es wichtig, die gemeinsamen Werte und ihre ethischen Grundlagen herauszustellen. Von Justitia et Pax her halten wir die Orientierung an den Menschenrechten für eine gute Grundlage, um zu einer gerechteren und friedlicheren Welt zu kommen.
Dabei geht es zuerst darum, dass Menschen etwa ihr Recht auf sauberes Trinkwasser, auf Nahrung oder auf menschenwürdige Arbeit wahrnehmen können. Ein solcher Ansatz nimmt Staaten in die Pflicht, ebenso wie die Wirtschaft und andere Akteure der Entwicklungszusammenarbeit.
Angesichts drohender Kriege um Wasser oder andere knapper werdende Ressourcen liegt im menschenrechtsorientierten Ansatz auch ein wirksamer Weg zur Krisenprävention.
KNA: Derzeit gibt es zwei internationale Prozesse, die sich mit der Entwicklungsagenda befassen: der MDG-Prozess einerseits und die Formulierung der Sustainable Development Goals andererseits. Sollten beide Prozesse zusammenfließen, oder ist es effektiver, wenn sie nebeneinander herlaufen?
Ackermann: Ein Nebeneinander ist sicher nicht effektiver, weil Ressourcen geteilt werden und Konkurrenz aufkommt. Das sehen wir schon in Deutschland, wenn sich die Bundesministerien für Umwelt und Entwicklung und das Auswärtige Amt abstimmen müssen. Insofern ist es geraten, die Agenden dicht zusammenzuhalten, oder besser noch: sie zusammenzubringen. Denkbar ist aber auch, sich zunächst einmal über die grundlegende Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit zu verständigen - eben etwa entlang der Menschenrechte - um von dort aus eine Entwicklungsagenda aufzusetzen und dann konkrete Mechanismen zur Umsetzung zu vereinbaren.
KNA: Mittlerweile werden Forderungen laut, auch Themen wie Frieden und Sicherheit aufzunehmen. Droht nicht ein großer Wunschzettel, der immer unverbindlicher wird?
Ackermann: Das ist sicherlich eine Gefahr, doch ohne Frieden keine Entwicklung. Das zeigt die Lage in fragilen Staaten wie Somalia oder Irak. Darüber hinaus ist das Thema Frieden und Sicherheit bereits Bestandteil entwicklungspolitischer Strategien. Das sieht man etwa am Strategiepapier, das das BMZ dazu in diesem Jahr vorgelegt hat.
KNA: Wie also sollte die neue Agenda Prioritäten setzen?
Ackermann: Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen: Das Ziel, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und soziale Sicherung für alle Menschen in der Post-2015-Agenda zu verankern - diese Forderung der Internationalen Arbeitsorganisation haben internationale katholische Organisationen unterstützt, auch wir von Justitia et Pax.
Menschenwürdige Arbeitsbedingungen, soziale Sicherung und existenzsichernde Einkommen sind ein Menschenrecht, das Staaten und Unternehmen verpflichtet. Wenn es auch für Wanderarbeiter und informell Beschäftigte umgesetzt würde, könnte die Armut weltweit erheblich reduziert werden. Im weltweiten Wettbewerb darf es nicht um Arbeit zu jedem Preis gehen, um Lohndumping oder Ausbeutung - weder von Einheimischen noch von Saison- oder Wanderarbeitskräften. Die Teilhabe an menschenwürdiger Arbeit sichert den sozialen Frieden, schafft Perspektiven für die nachkommende Generation und senkt den Druck von Arbeitsmigration.
KNA: Werden die reichen Industriestaaten in den bisherigen Konzepten ausreichend berücksichtigt?
Ackermann: Es zeichnet sich zwar ab, dass die Partnerschaft zwischen den wirtschaftlich starken und den schwachen Ländern neu gedacht werden soll. Das ist natürlich zu begrüßen. Doch muss man noch daran zweifeln, wie ernsthaft der politische Wille in den Industrieländern ist, das Konsumverhalten zu problematisieren. Als Kirchen machen wir ja immer wieder aufmerksam auf die Notwendigkeit umzukehren, etwa in den Fastenaktionen und in der Eine-Welt-Arbeit. Das heißt: Werben für fairen und ökologischen Einkauf, auf soziale und gerechte Produktionsbedingungen achten, Fleischkonsum reduzieren undsoweiter.
Es existiert ja das Wort von der "Großen Transformation der Weltgemeinschaft". Aber machen wir uns nichts vor: Wenn diese tiefgreifenden Änderungen nicht mehrheitsfähig werden, bleiben die Chancen auf eine Umsetzung gering.
KNA: Wie müsste eine neue Agenda in Deutschland umgesetzt werden?
Ackermann: Da bleibt auch in unserem Land viel zu tun, angefangen von der Umsetzung der Energiewende bis hin zur Vermeidung von Lohndumping in der Nahrungsmittelindustrie. Aber ebenso notwendig brauchen wir eine gesellschaftliche Debatte, die einerseits die Menschen ernst- und mitnimmt, andererseits auch unbequeme Wahrheiten thematisiert.
Dabei ist ja auch ganz nüchtern zu bedenken: Deutschland ist ein Land, das wirtschaftlich von dem Wohlergehen anderer Länder abhängt.
Deshalb sollte unsere Politik nicht dazu führen, dass Menschen in anderen Ländern Europas oder anderer Kontinente um ihre Existenz fürchten müssen.
KNA: Entwicklungsminister Niebel hat angekündigt, sich vom 0,7 Prozent-Ziel für Entwicklungshilfe zu verabschieden. Verliert Deutschland da nicht an Glaubwürdigkeit?
Ackermann: In den kommenden zwei Jahren sollten wir wirklich schauen, dass wir wenigstens die gesetzten Millenniumsentwicklungsziele erreichen. Dazu gehört auch, dass die Bundesregierung zumindest am international vereinbarten Ziel festhält, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklung aufzuwenden. Es ist beschämend genug, dass Deutschland zu keiner Zeit mit keiner Regierung diese Marke bisher erreicht hat. Andere Länder Europas sind hier konsequenter.
Das Interview führte Christoph Arens.