Im Glaubensbekenntnis der Kirche heißt es: "Jesus Christus wurde empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria." Mit anderen Worten: Der Beginn der Existenz Jesu im Mutterleib Mariens soll ein Wunder gewesen sein, da sie ohne die geschlechtliche Mitwirkung eines Mannes, sondern allein durch das Eingreifen Gottes geschehen sein soll. Davon berichten Matthäus und Lukas in ihren Evangelien schon im ersten Jahrhundert. Kaum ein Bekenntnissatz ist allgemein so umstritten. Der Bibelwissenschaftler Gunther Fleischer hat dazu eine klare Meinung und sagt: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Evangelien ihren Gemeinden - wir sind ja immerhin noch im ersten Jahrhundert und damit relativ nah an der Zeit Jesu - einen zentralen Verkündigungsinhalt festhalten, von dem alle sagen: 'Frei erfunden, stimmt überhaupt nicht.' Da spricht mehr dafür, dass schon eine lebendige Tradition da ist, die man aufgreift und ins Wort bringt."
Wenn Gott der Schöpfer ist, hat er auch Macht über die Materie
Der Bibelwissenschaftler hält also gegen die oftmals formulierte Kritik, die Kirche habe erst nachträglich die Jungfrauengeburt konstruiert, um so die Bedeutung Jesu hervorzuheben. Und trotzdem: Widerspricht dieser Glaube widerspricht doch jeder Vernunft und dem modernen Geist? Wie soll man daran wirklich glauben können?
Benedikt XVI. bezeichnete die Jungfrauengeburt genauso wie die Auferstehung Jesu von den Toten als die Prüfsteine des christlichen Glaubens: Wenn Gott die Welt erschaffen hat, dann - so Benedikt - habe er auch die Macht über die Materie. Erst recht, wenn er damit in das Weltgeschehen entscheidend eingreifen will. Jesus Christus ist von Gott gesandt, um die Menschheit zu retten, um ihr eine Gemeinschaft mit Gott zu eröffnen, die über den Tod hinaus geht – so ist es der Glaube der Kirche. Und dieser Glaube setzt voraus, dass Gott wirklich retten kann. "Dann", so formuliert es Bibelwissenschaftler Fleischer, "kann Gott auch eine Empfängnis bewirken, die sich nicht einfach in den menschlichen Zeugungs-Zyklus einordnet. Das ist der eigentliche tiefe Glaube, um den es da geht." Und den findet Fleischer unverzichtbar: "Ansonsten wird Jesus vielleicht zu einem interessanten Vorbild, den man versuchen kann irgendwie nachzuahmen, aber dann muss ich das 'Retten' immer noch selbst bewirken. Dem genau widerspricht Heilige Schrift: 'Nein, die Rettung geschieht von Gott her oder gar nicht.'"
Oder doch nur ein Übersetzungsfehler?
Und dann ist da ja noch die Prophezeiung aus dem alttestamentlichen Buch Jesaja: Gott werde ein Zeichen vom Himmel senden: Eine Jungfrau werde ein Kind empfangen, so heißt es dort. Der Evangelist Matthäus deutete diese Stelle Jahrhunderte später auf Jesus hin. Doch gibt es dabei ein Problem: im hebräischen Original des Jesaja-Textes ist gar nicht von einer Jungfrau die Rede, sondern lediglich von einer jungen Frau.
Die eigentlich für das 8. Jahrhundert vor Christus angekündigte Geburt eines von Gott geschickten Retters blieb aus. So aber kam es, dass man damals die Jesaja-Prophezeiung nicht zu den Akten legte. Weil man eine solche große Rettergestalt aber erwartete, wurde in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes im 3. Jahrhundert vor Christus aus der jungen Frau plötzlich eine Jungfrau. "Und daran kann Matthäus dann anknüpfen und sagen: 'Dieser Jesus ist durch das Wirken des Heiligen Geistes empfangen worden - und das passt auch übrigens wunderbar zu der Jesaja-Prophezeiung aus dem griechischen Alten Testament'", erklärt Bibelwissenschaftler Fleischer.
Am Anfang war der Glaube - danach kam der Blick in die Schrift
Also ist es am Ende doch nur ein Übersetzungsfehler, der zum Glauben an die Jungfrauengeburt führte? Gerade im Zuge der neuen Bibel-Einheitsübersetzung wurde diese Frage wieder lauter gestellt. Doch Fleischer stellt klar, dass die jungfräuliche Empfängnis nicht allein herauskonstruiert sei aus den alttestamentlichen Verheißungen: "Der Weg ist ein umgekehrter: Aus dem festen Glauben, die Anfänge Jesu hätten diesen Weg genommen, fragt man zurück: 'Gibt es darauf schon Hinweise?'" Entscheidender ist also, dass die Vorstellung der Jungfrauengeburt zum festen Glauben der ersten Christen gehört haben muss, und zwar schon bevor Matthäus den Verweis zur Jesaja-Prophezeiung im Evangelium aufgeschrieben hat.
Kannte der Evangelist Lukas die Gottesmutter Maria persönlich?
Es bleibt die Frage, woher denn dieser Glaube kam? Den Schlüssel dazu könnte der Evangelist Lukas liefern, der ebenfalls von der Jungfrauengeburt schreibt. Er berichtet ausgiebig aus der Perspektive der Jungfrau Maria, so dass die Tradition entstand, dieser Lukas habe einen engen Kontakt zur christlichen Urgemeinde oder sogar zu Maria selbst gehabt. Erfuhr er von dem Wunder der Jungfrauengeburt möglicherweise aus erster Hand, Dr. Fleischer? "Offensichtlich gibt es zumindest ein lebendiges Interesse des Evangelisten Lukas an der Gestalt Mariens. Jetzt kann man darüber nachdenken, hat er das aus eigener Kenntnis oder aus dem Überlieferungsstrom, an dem er zumindest nah dran ist: Maria, die Mutter Gottes, war eine der ganz wichtigen Traditionszeugen, die das Brückenglied zwischen Jesus und der Urgemeinde bildet - das ist durchaus denkbar."