"Evangelisch oder katholisch?" - das ist lange Zeit eine Gretchenfrage in Deutschland gewesen und meinte sehr unterschiedliche Lebenswelten. Kommunion oder Konfirmation und eine kirchliche Hochzeit gehörten zum Leben der meisten, wobei sogenannte Mischehen (also gemischtkonfessionelle Ehen) früher vielen als Frevel galten. Freizeitaktivitäten in Kirchengemeinden waren für Generationen Teil des Alltags. Das hat sich längst geändert. Doch trotz vermehrter Kirchenaustritte in jüngster Zeit waren vor gut einem Jahr noch immer 51 Prozent der deutschen Bevölkerung römisch-katholisch oder evangelisch. Doch jetzt - im Frühjahr 2022 - befindet sich in Deutschland erstmals seit Jahrhunderten keine Mehrheit der Menschen mehr im Schoß der beiden großen Kirchen.
Erstmals keine Mehrheit in der Kirche
"Es ist eine historische Zäsur, da es im Ganzen gesehen, seit Jahrhunderten das erste Mal in Deutschland nicht mehr "normal" ist, Kirchenmitglied zu sein", sagt der Berliner Sozialwissenschaftler Carsten Frerk von der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid), die von der religionskritischen und humanistischen Giordano-Bruno-Stiftung ins Leben gerufen worden ist.
Kirchen nicht mehr so präsent wie früher
"Früher haben die Kirchen in alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens hineingewirkt", sagt der Religionssoziologe Detlef Pollack von der Uni Münster. In den 50er Jahren seien sie im Alltag der Menschen präsent gewesen, bestimmten die allgemein akzeptierten Familien-, Moral- und Wertvorstellungen und stabilisierten die neu entstehende politische Ordnung. Auch in den Jahrzehnten danach seien sie in der Öffentlichkeit gehört worden, "etwa wenn es um die Aussöhnung mit den osteuropäischen Nachbarn ging oder um Fragen sozialer Gerechtigkeit oder um bioethische Fragen an den Grenzen von Leben und Tod".
Kultureller Umbruch
Seit den 60ern mit wirtschaftlichem Aufschwung, sich verändernden Familienstrukturen und der Emanzipation der Frauen setzte der kulturelle Umbruch ein, wie Pollack ausführt. "Autoritätswerte verloren an Bedeutung." Statt materieller Sicherung und sozialer Stabilisierung wurden politische Mitbestimmung und individuelle Selbstverwirklichung wichtig. Der Niedergang der Volkskirche begann. Religiöse Bindungen schwächten sich ab. Vor der Abwendung vom Glauben und den Kirchen stehe dabei meist der Verzicht auf die Teilnahme am kirchlichen Leben. "Wenn die religiöse Praxis aufgegeben wird, geht auch der Einfluss der Religion auf die Lebensführung zurück."
Trotzdem: Noch 1990 waren mehr als 72 Prozent der deutschen Bevölkerung in einer der großen Kirchen Mitglied.
Abwärtstrend schon seit längerer Zeit deutlich
"Die Abwärtsentwicklung ist schon seit längerem zu beobachten", sagt Sozialwissenschaftler Frerk. "Sie hat sich in den vergangenen sechs Jahren aber stärker beschleunigt als vorher angenommen." Verloren die Kirchen in den Jahren 2000 bis 2015 pro Jahr etwa 0,6 bis 0,8 Prozentpunkte am Bevölkerungsanteil, so sind es seit 2016 etwa 1,0 bis 1,4 Prozentpunkte. Inzwischen ist nun eben auch der eine Punkt über der 50-Prozent-Marke verloren gegangen.
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) gab eine Hochrechnung ab, Ende 2021 wohl nur noch etwa 19,7 Millionen Mitglieder zu zählen (Vorjahr 20,2 Millionen). Prognosen sehen zudem derzeit noch etwa 21,8 Millionen Katholiken (Vorjahr 22,2 Millionen).
Neben Aussterben auch Austritte
Neben einem Aussterben der Kirchenmitglieder gibt es auch zahlreiche Austritte. Nicht alle Austritte seien politisch motiviert, sagt Robert Stephanus, Vorsitzender des überkonfessionellen Vereins REMID (Religionswissenschaftlicher Medien- und Informationsdienst). Die Motive reichten vom Steuernsparenwollen bis zu Protest gegen die Amtskirche und ihren Umgang mit Missbrauchsfällen in den eigenen Reihen. Regional gebe es im Bezug zur Kirche große Unterschiede, sagt Stephanus. In Bayern sei es anders als in Niedersachsen oder aber im Gebiet der früheren DDR, wo die Mitgliederzahl der Evangelischen Kirche zwischen 1950 und 1989 von fast 15 Millionen auf 4 Millionen sank, die der Katholiken sich auf etwa eine Million halbierte.
Mehr als 40 Prozent Konfessionslose, die natürlich nicht ungläubig sein müssen, gibt es inzwischen in Deutschland. Die weiteren Einwohner sind zum Beispiel Muslime und Juden. Da es außerhalb der großen Kirchen noch ein paar Millionen weitere Christen gibt, zum Beispiel Freikirchler und Christlich-Orthodoxe, liegt die Quote der Christen nach wie vor über 50 Prozent hierzulande.
"Drei Stufen der Erosion"
Eine Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" nahm vor Weihnachten den beschleunigten Abwärtstrend der Kirchen und des Christentums in Deutschland unter die Lupe. Beschrieben wurden "drei Stufen der Erosion": Zuerst verlieren Leute den "Glauben an die wesentlichen Inhalte des Christentums". So glaubten lediglich noch 37 Prozent der Bevölkerung, dass Jesus Gottes Sohn sei (1986 noch 56 Prozent).
Die nächste Stufe sei dann der Kirchenaustritt. Darauf folge "die Abwendung von der christlichen Kulturtradition", auch wenn diese noch "eine gewisse Zeit" wertgeschätzt werde. Trotz rückläufiger Kirchenmitgliederzahlen stimmen laut Allensbach-Studie aber 70 Prozent der Befragten zu, dass das Christentum zu Deutschland gehöre, bei den Konfessionslosen immerhin 55 Prozent.
Interesse an christlichen Inhalten geht verloren
Wie sehr aber Interesse an christlichen Inhalten verloren geht, zeigt sich beispielhaft am mangelhaften Wissen über die Feiertage. So wissen viele hierzulande nicht, was Ostern oder Pfingsten überhaupt gefeiert wird und dass an Halloween auch Reformationstag ist. Und vielleicht das eindrucksvollste Beispiel steht im Mai wieder an: Der Feiertag Christi Himmelfahrt (2022 am 26.5.) ist für Millionen längst nur noch Vatertag - oder einfach Herrentag und Männertag.