DOMRADIO.DE: Ist die Kritik des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an Papst Franziskus, dieser sei durch seine Haltung zum neuen Gesetz von Russland beeinflusst, berechtigt?
Prof. Dr. Regina Elsner (Lehrstuhl für Ostkirchenkunde und Ökumenik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster): Diese Situation illustriert die verfahrene Kommunikation zwischen dem Vatikan und der Ukraine, und sie zeigt gleichzeitig, wie erfolgreich die russische Propaganda war.
Russland und die Russisch-Orthodoxe Kirche haben seit vielen Jahren das Thema Religionsfreiheit international besetzt und dafür auch die ökumenischen Beziehungen benutzt. Man hat sich gemeinsam mit dem Vatikan als die einzigen Verteidiger der Religionsfreiheit weltweit positioniert. Und tatsächlich haben sich viele andere Menschenrechtsakteure kaum mehr für die tatsächlichen Verletzungen von Religionsfreiheit weltweit interessiert. Man hat das Feld teilweise sehr fragwürdigen Akteuren aus dem rechtskonservativen Kreis überlassen und damit vergiftet.
Gleichzeitig gehört Russland zu den größten Gefährdern der Religionsfreiheit sowohl im eigenen Land als auch in den besetzten Gebieten der Ukraine, im Donbass und auf der Krim. Dazu hat der Vatikan immer geschwiegen, sogar wenn katholische Priester oder Gläubige unterdrückt wurden. Aber auch zu den anderen Menschenrechtsverbrechen Russlands war der Vatikan still.
Dass man nun so offensiv und konkret die Ukraine für dieses Gesetz kritisiert, nachdem man jahrelang zu den Verbrechen Russlands geschwiegen hat, sorgt mit Recht für Irritation. Der Vorwurf Selenskyjs, hier sei Russlands Einfluss am Werk, kann man angesichts der langen Allianz von Rom und Moskau durchaus nachvollziehen.
Rom hat die Ukraine für eine sehr lange Zeit ausschließlich durch die Brille Moskaus gesehen. Zumindest hat diese Allianz dafür gesorgt, dass Rom von der Ukraine nicht mehr als glaubwürdige Autorität akzeptiert wird, auch wenn die Worte des Papstes vielleicht keine direkte Reaktion auf den vergifteten Aufruf von Patriarch Kyrill an die Weltgemeinschaft sind.
DOMRADIO.DE: Auch Sie haben das Gesetz als "Tür für schwere Verletzungen der Religionsfreiheit" und neue Spaltungen bezeichnet. Der Kiewer Großerzbischof der griechisch-katholischen Kirche, Schewtschuk, hingegen begrüßt es als Schutz vor Missbrauch von Religion. Ist die innere und äußere Sicherheit in der Ukraine nicht zur Zeit oberstes Gebot?
Elsner: Die Ukraine hat jedes Recht, sich gegen Gefährdungen nach innen und außen zu wehren. Sie hat dafür sehr viele gesetzliche Instrumente, die es erlauben, erfolgreich gegen Kollaboration, Verrat und Propaganda vorzugehen, und da sind die Religionsgemeinschaften nicht ausgeschlossen.
Es gibt aktuell mehr als 70 Fälle, wo Kleriker und Mitarbeiter der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche strafverfolgt werden, entweder aufgrund von Kollaboration und Staatsverrat, oder aufgrund von Hassrede aus religiösen Gründen. Das heißt, die juristischen Mittel der Bekämpfung funktionieren, und die Kirchen haben keine Gelegenheit, sich dieser Strafverfolgung aus religiösen Gründen zu entziehen.
Das neue Gesetz ist vor diesem Hintergrund ein Problem, weil es weitere und rechtlich sehr fragwürdige Maßstäbe festsetzt, die sich ausschließlich gegen Religionsgemeinschaften wenden, denen eine Verbindung nach Russland nachgewiesen werden kann. Diese Kriterien vermischen administrative und kirchenrechtlich Konzepte und sind damit ein Eingriff in die inneren Angelegenheiten einer Religionsgemeinschaft.
Angesichts der Tatsache, dass die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche als Ganzes seit 2019 als russischer Arm in der Ukraine diffamiert wird, ist absehbar, dass dieses Gesetz den Kräften, die vor allem lokal gegen einzelne Gemeinden vorgehen wollen, nun eine Legitimation gibt, ohne dass konkrete Vorfälle von Kollaboration oder Staatsverrat nachgewiesen werden müssen. Es reicht etwa, dass in Moskau gesagt wird, dieser Priester oder diese Gemeinde sind Teil unserer Kirche oder dass in der Kirche Ikonen von russischen Heiligen verehrt werden, die angeblich Teil der Ideologie der "Russischen Welt" sind.
Die Gesetzgeber, und die anderen Kirchen wie die Ukrainische griechisch-katholisch Kirche (UGKK) versuchen mit dem Gesetz eine "spirituelle Unabhängigkeit" herzustellen, aber Unabhängigkeit lässt sich nicht deckungsgleich vom sicherheitspolitischen Kontext auf Religion übertragen. Die UGKK wurde in ihrer Geschichte auch unterdrückt, weil sie angeblich abhängig war von feindlichen westlichen Einflüssen. Ich würde mir da einen sensibleren Umgang mit Religionsfreiheit wünschen.
DOMRADIO.DE: Welche Konsequenzen könnte die Kritik Selenskyjs an Papst Franziskus für den Vatikan, aber auch für die mit Rom unierten Christen in der Ukraine haben?
Elsner: Ich glaube, dass dieser Vorfall den Graben des Unverständnisses zwischen dem Vatikan und der Ukraine vertiefen wird. Die Aussagen des Papstes sind nicht falsch, aber sie stehen im Kontext von viel misslungener Kommunikation und vor allem einer gescheiterten Vermittlungsmission, in der Rom immer wieder versucht, Moskau als legitimen Akteur zu stärken.
Hätte der Papst wenigstens einmal so offen und direkt die Klagen seiner eigenen Gläubigen in der Ukraine aufgenommen, Moskau für die tausendfachen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen die Religionsfreiheit, den Moskauer Patriarchen für seine offene Kriegshetze öffentlich kritisiert, man würde ihm die aktuellen Äußerungen weniger verübeln. Diese "falsche Balance" wird auch der Verständigung zwischen Rom und der UGKK langfristig schaden.
Gleichzeitig bewirkt die Relativierung des ja tatsächlich problematischen Gesetzes durch Selenskij und die UGKK, dass man zurecht ihren Zugang zur Religionsfreiheit in Frage stellen kann. Auch das hilft dem Dialog auf Augenhöhe nicht wirklich. Leider ist hier also zwischen Rom und der kriegsgeschundenen ukrainischen Bevölkerung ein weiterer Schritt der Entfremdung zu konstatieren.
Die Fragen stellte Jan Hendrik Stens.