Kirchenhistoriker: Mit dem "Gang nach Canossa" vor 930 Jahren begann die Trennung von Kirche und Staat

Mehr als ein Bittgang

Der "Gang nach Canossa" gilt vielen Historikern als entscheidende Wegmarke bei der Entwicklung Westeuropas. Für König Heinrichs IV. war der Schritt wohl eine Notlösung, mit der er sich aus einer schier aussichtslosen Situation herausmanövrierte. Vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzung des Westens mit dem Islam betonte nun der Heidelberger Mittelalterhistoriker Stefan Weinfurter die Bedeutung der Trennung von Kirche und Staat für Europa, die damals begonnen habe.

 (DR)

1075: Bannfluch gegen Heinrich
Im Verlauf des Jahres 1076 war der König des Heiligen Römischen Reiches in Schwierigkeiten geraten. Der Papst, den ein Zeitgenosse die "Zuchtrute Gottes" nannte, hatte der Kirche eine strenge moralische Reinigungskur verordnet. Priester sollten nicht mehr heiraten, Bischofsämter nicht mehr an den Meistbietenden vergeben werden und der Papst die zentrale Autorität im Leben der Gläubigen sein, Könige eingeschlossen.

Ende 1075 forderte Gregor vom König, auf die Einsetzung der Reichsbischöfe zu verzichten. Heinrich, der sich als von Gott berufener König betrachtete, lehnte dies ab, nannte Gregor einen "falschen Mönch" und forderte seinen Rücktritt. Daraufhin schleuderte der Papst den Bannfluch gegen Heinrich. Die Untertanen wurden vom Treueeid entbunden, Heinrichs Regierungshandlungen waren fortan ungültig. Noch nie hatte jemand einen König in dieser Weise herausgefordert.

Die deutschen Fürsten, die Heinrich gerade erst besiegt hatte, rebellierten und luden den Papst ein, mit ihnen in Deutschland über den König zu urteilen. Um das zu verhindern, eilte Heinrich mitten im Winter über die Alpen nach Italien. Zur Verblüffung seiner Anhänger, aber auch des Papstes kam er nicht mit einem Heer, sondern ließ über Unterhändler bei Gregor um die Lösung vom Bann bitten. Als der Papst zögerte, erschien der König vom 25. bis 27. Januar 1077 als Büßer vor der norditalienischen Burg Canossa, wohin sich der Kirchenfürst zurückgezogen hatte. Als Seelsorger konnte Gregor dem Büßer Heinrich die Wiederaufnahme in die Kirche nicht verweigern und löste am 28. Januar den Bann.

Für den Papst war das ein Prestigeerfolg, aber kein Triumph
Heinrich gewann in Canossa einen Teil seiner Handlungsfähigkeit zurück. Einige Fürsten wählten zwar einen Gegenkönig, aber sie hatten dafür keine Rechtfertigung durch den Papst mehr. Der Gegenkönig fiel drei Jahre später - in den Augen der Zeitgenossen eine Strafe Gottes.

Als Gregor Heinrich 1080 noch einmal bannte, ließ ihn der König für abgesetzt erklären und einen Gegenpapst einsetzen. Diesen führte er mit einem Heer nach Rom und ließ sich von ihm 1084 zum Kaiser krönen. Gregor starb 1085 im Exil. Heinrich IV. wurde 1105 von seinem Sohn Heinrich V. gefangen genommen und zur Abdankung gezwungen.

Historiker: Canossa war wichtiger als Französische Revolution
Vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzung des Westens mit dem Islam betont der Heidelberger Mittelalterhistoriker Stefan Weinfurter die Bedeutung der Trennung von Kirche und Staat für Europa. Die Scheidung von weltlichem und kirchlichem Bereich habe in Westeuropa bereits mit dem "Gang nach Canossa" begonnen. "In Canossa erkennt der König an, dass er nicht nur Gott allein verantwortlich ist, sondern auch noch anderen Menschen, wie zum Beispiel dem Papst", so Weinfurter.

Eine solche Entwicklung habe es sonst nirgendwo auf der Welt gegeben. Viele Historiker sähen darin einen Umbruch, der wichtiger sei als die Französische Revolution von 1789 bis 1795.

Zwar sei der "Gang nach Canossa" auch ein politischer Vorgang gewesen, weil Heinrich so die Vereinigung des Papstes mit der Opposition in Deutschland verhindert habe. Zugleich habe aber seine Legitimation als von Gott bevollmächtigter Herrscher gelitten. Bis dahin habe es gar keinen weltlichen Staat gegeben. "Die Bibel war sozusagen das Grundgesetz des Reiches", erläutert Weinfurter. Nach Canossa hätten die Herrscher neue, weltliche Rechtsbeziehungen zu ihren Vasallen etablieren müssen, wenn sie ihre Legitimation nicht von der Kirche abhängig machen wollten, die sie jetzt nicht mehr kontrollieren konnten.

"Canossa war Katalysator, nicht Auslöser"
Auch in der Ostkirche habe es Ansätze für eine solche Entwicklung gegeben, sagt Weinfurter. Allerdings seien diese nicht weiter vorangetrieben worden. Die orthodoxen Patriarchen seien im Gegensatz zum Papst immer eine Art kaiserliche Beamte geblieben.

Im Islam sei eine Tendenz zur Trennung von Staat und Religion dagegen noch gar nicht zu erkennen, sagt Weinfurter. Allerdings gebe es mögliche Parallelen zum Christentum. Ausgangspunkt der Entwicklung in Europa sei im 11. Jahrhundert eine gewaltige religiöse Erneuerungsbewegung gewesen. Die Reformer um Papst Gregor VII. hätten ihre moralischen Ansprüche in unbarmherziger Weise vertreten. Anhänger der hergebrachten Ordnung hätten in ihnen oft Fanatiker und Zerstörer gesehen. Es sei durchaus denkbar, dass Reformanhänger aus dem französischen Kloster Cluny von etablierten Mönchen im heutigen Sprachgebrauch als Terroristen bezeichnet worden wären. Auch sei es kein Zufall, dass damals in Europa der Kreuzzugsgedanke entstand.

Die Entwicklung in Europa habe Zeit gebraucht, sagt Weinfurter. Die Trennung von Kirche und Staat sei erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert vollendet worden. Canossa sei Katalysator, nicht aber Auslöser der Entwicklung gewesen. So habe die Kirche schon vor 1077 angefangen, höchste moralische Ansprüche an ihr Personal zu stellen und Widersprüche in ihrer Lehre mit Hilfe der scholastischen Methode zu beseitigen, in der die Vernunft eine entscheidende Rolle spielte.