Mit einem Stelldichein der Bundespolitik und breit gefächertem inhaltlichen Programm hat der evangelische Kirchentag am Fronleichnamsdonnerstag in Stuttgart Fahrt aufgenommen. Bei bestem Sommerwetter pilgerten Zehntausende Besucher mit Sonnenmützen und rotem Kirchentagsschal zu den großen Podiumsgesprächen und Bibelauslegungen.
Während sich am Vormittag unter anderem die Bundesminister Manuela Schwesig, Thomas de Maiziere, Angela Nahles und Wolfgang Schäuble an "Bibelarbeiten" übten und in Zeiten der Griechenlandkrise die biblische Erzählung vom untreuen Verwalter auslegten, ging es am Nachmittag unter anderem um Flüchtlingspolitik und wirtschaftsethische Fragen.
Bundespräsident Joachim Gauck diskutierte mit dem Erfurter Soziologen Hartmut Rosa über Wege guten Lebens. Gauck rief die Bürger dazu auf, ihre Zukunft in die eigene Hand zu nehmen und den gesellschaftlichen Wandels mitzugestalten anstatt zu resignieren. Nie zuvor habe es in Deutschland ein vergleichbares Maß an Freiheit gegeben wie heute, betonte Gauck vor mehreren Tausend Zuhörern. Es reiche nicht, Verantwortung an die Politik zu delegieren, wie es manchmal auch Kirchentage mit Resolutionen oder Papieren versuchten. Auf den Einzelnen und seinen Mut zu Handeln komme es an.
Der indische Friedensnobelpreisträger Kailash Satyarthi forderte eine "Globalisierung des menschlichen Mitgefühls", um Kinder weltweit vor Missbrauch, Sklavenarbeit und Prostitution zu schützen. "Können wir uns zivilisiert nennen, wenn wir unsere Kinder nicht vor Gewalt schützen können?", fragte Satyarthi, der im vergangenen Jahr gemeinsam mit der pakistanischen Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai den Nobelpreis erhalten hatte.
Ein ökumenisch bemerkenswertes Zeichen setzte der gemeinsame Gottesdienst von Protestanten und Katholiken zum ur-katholischen Fronleichnamsfest auf dem Schlossplatz und die Prozession des Stuttgarter Stadtdekanats.
Als Publikumsmagnet erwies sich erneut der Auftritt von Ex-Bischöfin Margot Käßmann, die zur Kapitalismuskritik ansetzte: Christen müssten sich für eine solidarische Gesellschaft einsetzen und die "Logik der Welt des Mammon, des Marktes" durchbrechen.
Besonders im Fokus des bis Sonntag dauernden Treffens standen auch Flüchtlingsfragen. Bundesfamilienministerin Schwesig forderte, die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik nicht allein an ökonomischen Gesichtspunkten auszurichten. Schutzsuchende dürften nicht in zwei Klassen eingestuft werden, je nachdem ob von ihnen ein schneller gesellschaftlicher oder ökonomischer Nutzen zu erwarten sei oder nicht.
Flüchtlingspolitik im Fokus
Auf die Sommerhitze stellten sich die Teilnehmer mit Sonnenschutz und ausreichend kühlen Getränken rasch gut ein. Die Sanitätsdienste berichteten bis zum Abend von keinen nennenswerten Problemen. Trotz mancher überfüllter U-Bahn herrschte allenthalben entspannt-unaufgeregte Atmosphäre. Auf vielen Bühnen gab es Livemusik. Bäcker verkauften "Kirchentagsweckle" mit Schokoladekreuz. Jugendliche boten per Umhängepappschild "kostenlose Umarmungen" an. Und selbst die kurze Facebook-Empörung über ein verunglücktes Posting des Baden-Württemberg Marketings in Anspielung auf die Stuttgart21-Bahnhhofsproteste - "100.000 Protestanten und nicht ein Wasserwerfer" - war schnell wieder vergessen.
Noch bis Sonntag geht das dicht gedrängte Programm mit insgesamt 2.500 Einzelveranstaltungen weiter. Die Spannbreite reicht von Bibellektüre bis Weltpolitik. Kurz vor dem G7-Gipfel auf Schloss Elmau wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Freitag bei einem Kurzbesuch in die Kirchentagsdiskussionen eingreifen. Ihr Thema: die Gestaltung der digitalen Revolution.