Windstill liegt der See in der Herbstsonne. Senioren auf E-Bikes. Wenige Meter vom Seeufer entfernt ragen die Türme der Niederzeller Kirche Sankt Peter und Paul in den wolkenlos blauen Himmel. Nahe dem romanischen Gotteshaus bereitet ein Landwirt sein Feld für den Winter vor.
Dann läuten die Glocken zum Mittagsgebet. In ihren hellen Gewändern eilen zwei Benediktinerinnen und drei Mönche in die kleine Seitenkapelle. Wegen Corona können derzeit nur wenige Gäste zu den Gebetszeiten kommen. Pater Stephan Vorwerk stimmt einen Psalm-Gebet an: "Danket dem Herrn, denn er ist gütig, seine Huld währt ewig."
Klösterliches Leben zurück auf der Reichenau
Ein Jahrtausend nach Ende der mittelalterlichen Blütezeit ist das klösterliche Leben auf die Reichenau zurückgekehrt. "Stolz ist das völlig falsche Wort. Wir freuen uns schlicht, an die große spirituelle Tradition anknüpfen zu können. Mit unserer kleinen Cella - als spirituelle Oase - ist die Reichenau wieder zurück auf der benediktinischen Weltkarte", so Pater Stephan.
Als er vor knapp 20 Jahren die Idee zur Neugründung hatte, winkten zunächst viele ab. Bundesweit müssen Klöster und Abteien wegen fehlender Mönche und Schwestern schließen. Und dann eine Neugründung wagen?
Doch unterstützt von Nikolaus Egender, den er als Abt der Dormitio-Abtei in Jerusalem kennen gelernt hatte, ließ sich Pater Stephan nicht von seiner Idee abbringen. "Es war nicht immer einfach, aber nun sind wir eine richtige Gemeinschaft geworden. Und vielleicht passt unsere kleine Cella gut in eine Zeit, in der Kirche vielerorts auf dem Rückzug ist und an Bedeutung verliert. Wir zeigen, dass wir noch da sind."
Seit 2004 ist die Reichenauer Cella als Teil der Beuroner Benediktinergemeinschaft offiziell registriert. Die aktuell drei Mönche wohnen - gemeinsam mit ihrem Labrador - im Pfarrhaus der Niederzeller Kirche. Nebenan in der Mesner-Wohnung leben seit 2017 zwei von den Philippinen stammende Benediktinerinnen.
Spiritualität im Alltag leben
Große Worte und Aufsehen liegen den Ordensleuten fern. Sie wollen einfach da sein. Spiritualität im Alltag leben. Sie feiern Stundengebet, halten Gottesdienste in den drei Weltkulturerbe-Kirchen der Insel. Die Nonnen haben eine Frauengebetsgruppe gegründet und predigen ab und an in den Sonntagsmessen. Und gestalten das Kirchengemeindeleben mit. "Wir sind hier am richtigen Ort", sagt Schwester Araceli.
Nach einem sehr besonderen Corona-Jahr - im Frühjahr der Lockdown, dann ein enormer Ansturm von Touristen und Besuchern - beginnen nun wieder ruhigere Monate. Erst Recht seit den Corona-Beschränkungen im November. Auch das 20-Jahr-Jubiläum der Weltkulturerbetitels für die "Klosterinsel" fällt aus. Weihnachtsgottesdienste sollen, wenn es das Wetter zulässt, im alten Klostergarten zwischen Seeufer und Mittelzeller Münster Sankt Markus und Maria unter freiem Himmel stattfinden. "Dort haben wir im Sommer schon Erstkommunion gefeiert.
Vielleicht kann aus der Not so etwas Neues entstehen", betonen die Mönche.
Blick auf das Jahr 2024
Schon jetzt richten sich die Blicke aber auch auf die Nach-Corona-Zeit und auf das Jahr 2024: Dann soll an die Gründung des Klosters Reichenau durch Bischof Pirmin vor 1.300 Jahren erinnert werden. Neben einer großen kulturhistorischen Ausstellung sind Veranstaltungen, Konzerte und Tagungen geplant.
"Wir wollen die gesamte Bürgerschaft einbeziehen. Und wollen aus dem Blick zurück auch für Gegenwart und Zukunft lernen", so Karl Wehrle von der Stiftung Welterbe. Das Jubiläumsmotto "Von der Klostergründung 724 bis zum Welterbe" könne deutlich machen, dass es nicht um verstaubte Kirchengeschichte geht, sondern um Kunst, Wissenschaft, Architektur und Religiosität, die bis heute nachwirken.
Der Direktor des Badischen Landesmuseums, Eckart Köhne, beschreibt die Reichenau als "Markstein in der Kloster-, Religions- und Kulturgeschichte in Europas" von kaum zu überschätzender Bedeutung. "Unsere Landesausstellung wird eine Einladung sein, die herausragenden Leistungen und das Erbe dieses mittelalterlichen Kulturzentrums neu kennenzulernen."
Dabei werden die Inselkirchen selbst die größten Ausstellungsstücke sein - mit ihren bedeutenden Wandmalereien in Sankt Georg in Oberzell oder der Schatzkammer des Münsters. Das Jubiläumsjahr will erzählen, dass Mönche wie Walahfrid Strabo (um 808-849) oder zwei Jahrhunderte später Hermann der Lahme (1013-1054) die Reichenau zum Forschungs- und Bildungszentrum machten.
Hier wurden kirchliche und politische Eliten ausgebildet. Karolinger und Ottonen suchten den Rat der Mönche. Die Reichenauer Handschriften wirkten mit ihren Miniaturen - etwa der Darstellung des Lebens Jesu - stilbildend für die Kunstgeschichte der folgenden Jahrhunderte.
Einige Manuskripte, die zum Unesco-Weltdokumentenerbe gehören und in verschiedene Archive und Bibliotheken verstreut sind, könnten für die Ausstellung auf die Insel zurückkehren.
Erzdiözese Freiburg will sich beteiligen
Auch die Erzdiözese Freiburg will sich am Festjahr beteiligen.
Erzbischof Stephan Burger sieht die Reichenau als eine der "Wurzeln des Christentums in unserer Region". Bis heute sei die Insel ein wichtiger spiritueller Ort. Obwohl außer den Kirchengebäuden auf der Insel kaum noch Spuren des mittelalterlichen Kloster zu sehen sind.
Ab dem zwölften Jahrhundert verlor das Kloster an Bedeutung, musste seine Selbstständigkeit schließlich an den Konstanzer Bischof abgeben und wurde mit der Säkularisation aufgehoben. Die ideelle und religiöse Wirkung aber hallt nach. "Persönlich verbinde ich mit der Reichenau den Gesang des 'Salve Regina', das hier komponiert wurde", so Burger.
In den kommenden Monaten will ein wissenschaftlicher Beirat die Grundzüge des geplanten Festjahrs erarbeiten. Die Vorarbeiten der Landesausstellung haben begonnen. Ein Managementplan soll Entwicklungsperspektiven für Erhalt und Pflege des Weltkulturerbes aufzeigen. Dringlich ist ein Verkehrskonzept für die Besucher. Noch ist unklar, in welchen Räumen die zentrale Ausstellung gezeigt werden kann. Den Planern ist bewusst, dass nicht mehr viel Zeit bleibt. Die Benediktiner-Gemeinschaft lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Und hält die klösterliche Tradition mit ihren täglichen Gebetszeiten lebendig.