Kölner Domkapitular emeritus hat keine Angst vorm Sterben

"Der Tod ist ein Schritt in ein größeres Leben hinein"

Jahrzehntelang hat er die Kirche von Köln an entscheidenden Schaltstellen mitgeprägt und ist dabei vor allem immer Seelsorger geblieben. Angesichts nachlassender Kräfte spricht Robert Kümpel über das, was ihn bis zum Ende trägt.

Der emeritierte Domkapitular Robert Kümpel spricht offen darüber, dass er keine Angst vor dem Tod hat / © Beatrice Tomasetti (DR)
Der emeritierte Domkapitular Robert Kümpel spricht offen darüber, dass er keine Angst vor dem Tod hat / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Die Welt steht in Flammen. Nicht allzu weit weg in der Ukraine und im Gazastreifen toben Kriege. In vielen Staaten sind autokratische und demokratiefeindliche Kräfte auf dem Vormarsch. Die Menschen haben Angst vor Naturkatastrophen und alltäglicher Gewalt. Sie selbst leben nur ein paar Schritte zum Dom entfernt und feiern immer noch regelmäßig stille Messen in einer der Kapellen – auch in diesen Anliegen. Aus welcher Hoffnung leben Sie?

Prälat Dr. Robert Kümpel (Domkapitular emeritus, ehemaliger Leiter der Abteilung Seelsorgepersonal und später der Abteilung Pastorale Begleitung): Ich lebe mit der Überzeugung, dass auf lange Sicht das Gute stärker sein wird als das Böse, das Zerstörerische. Und dass wir alle aufgerufen sind, an dieser Entwicklung mit unseren Möglichkeiten mitzuwirken. Wenn ich im Dom Eucharistie feiere, dann tue ich das, um die Lebenskraft des Auferstandenen in diese unsere verworrene Welt hineinzuholen, hier und jetzt, unter den Menschen, die gerade in dieser Stadt leben, damit sie mit ihren Sorgen, Fragen und Unsicherheiten gelassener umgehen können. Es gibt unter uns viel mehr Gutes und Lebensförderndes, als wir oft sehen: Die vielen jungen Menschen, die sich für die Menschenwürde einsetzen, für Gerechtigkeit, für die Bewahrung der Schöpfung, für die Hungernden in aller Welt, für Flüchtlinge und vieles mehr. Oft sind sie gar nicht mal kirchlich gebunden – und doch leben sie eine Haltung, zu der Christus auch uns auffordert. Manchmal aber bäumt sich das Böse geradezu apokalyptisch gegen solche positiven Bewegungen auf. 

Ein Beispiel: Als die jungen Leute auf dem ukrainischen Maidan den russischen Oligarchen vertrieben hatten, weil sie nicht die russische Autokratie, sondern die europäischen Werte leben wollten, da fiel Putins Entscheidung, die Ukraine anzugreifen und zu unterwerfen. Oder: Als sich vor über einem Jahr abzeichnete, dass sich eine Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien anbahnte, da sah sich die Hamas gezwungen, ihren Terrorüberfall zu starten, um einen solchen Ausgleich zu unterbinden. In beiden Fällen war der Auslöser eine positive Entwicklung, die möglichst brutal konterkariert werden sollte. Oft nehmen wir gar nicht mehr wahr, wie viele aufbauende Entwicklungen es längst in unserer Welt gibt, weil wir zunächst immer nur auf die Katastrophen starren. Dabei gibt es immer wieder auch Zeichen der Hoffnung, die Mut machen.

DOMRADIO.DE: Sie sind jetzt 84 Jahre alt und leben seit neun Jahren im Ruhestand. Mit dem Paulusbrief an Timotheus könnte man auch sagen: Sie haben den guten Kampf gekämpft, Ihren Lauf vollendet… Die körperlichen Kräfte lassen sichtlich nach, die Stimme ist schwächer geworden, jeder Weg bedeutet Anstrengung. Beschäftigen Sie sich damit, dass unter Umständen nicht mehr viel Zeit bleibt? Und macht Ihnen das Angst?

Prälat Kümpel war von 1984 bis 1996 Seelsorgepersonalchef in Köln und acht Jahre Regens des Priesterseminars / © Beatrice Tomasetti (DR)
Prälat Kümpel war von 1984 bis 1996 Seelsorgepersonalchef in Köln und acht Jahre Regens des Priesterseminars / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Kümpel: Nein, vor dem Tod habe ich keine Angst. Er ist für mich ein wichtiger Schritt in ein größeres Leben hinein. Was mich allerdings umtreibt, ist die Frage, wie dieser Schritt konkret ablaufen wird, was ich in dieser Situation noch tun kann und was ich einfach ertragen muss. Aber wie meine letzten Momente aussehen, das weiß ich natürlich nicht; das ist uns allen – aus gutem Grund – unbekannt.

DOMRADIO.DE: Sie waren viele Jahre in verantwortlicher Leitungsposition im Erzbistum und an wesentlichen Weichenstellungen der Kölner Kirche beteiligt. Gerade Ihre Aufgabe als Seelsorge-Personalchef war fordernd und implizierte ein hohes Maß an Verantwortung. Wie schauen Sie heute auf diese Zeit zurück? Gibt es so etwas wie Ihre ganz persönliche Bilanz? 

Kümpel: Ich hatte mich damals lange gegen die Übernahme dieser Aufgabe gewehrt, dann nach einem halben Jahr aber doch ja gesagt. Der Ruf der Personalabteilung war in unserem Bistum ja nicht unumstritten, ich musste mich auf eine Menge Probleme und Auseinandersetzungen einstellen. Damals ging es erstmals um die Erstellung eines Personalplans für das Seelsorge-Personal, die neuen Berufsbilder Pastoralreferent(in) und Gemeindereferent(in) warfen eine Menge Fragen auf. Die Frage nach der Zusammenlegung kleinerer Pfarreien tauchte auf. Heute sind das und noch viel weiter reichende Reformen längst normale Vorgänge, die allerdings vielerorts die Menschen vor die schmerzliche Frage stellen, ob das noch die Seelsorge ist, die sie sich wünschen.

Aber es ging dann mit meiner neuen Aufgabe – unterm Strich – doch besser als gedacht. Wichtig war mir – bei aller Härte, die Personalentscheidungen unter Umständen für Einzelne oder die Pfarreien mit sich bringen konnten – meine Aufgabe auch als eine Art Seelsorge an den Betroffenen zu verstehen. Ich habe diesen Stil dann auch später als Bischofsvikar für Pastorale Begleitung und als Regens in der Priesterausbildung fortzuführen gesucht. Dass es trotzdem bei Interessenkonflikten schon mal geknallt hast, ließ sich allerdings nicht immer vermeiden. Ich sehe heute aber auch, dass man die Idee der Verteilung des Seelsorge-Personals nach Personalplan nicht zu Tode reiten darf, sodass die Seelsorge als solche Schaden leidet. Das habe ich schon Kardinal Meisner in den 90er Jahren nachdrücklich gesagt – allerdings ohne Erfolg. Aber wahrscheinlich sah auch er selber dazu keine Alternative, denn das Thema "viri probati" war für ihn tabu.

DOMRADIO.DE: Das Priesterbild, aber auch das Selbstverständnis eines Priesters stehen immer wieder auf dem Prüfstand. Sie haben unzählige Mitbrüder erlebt, und natürlich liefen bei Ihnen auch die Problemfälle auf. Was kann heute noch überzeugen? Welcher Typ Seelsorger ist gefragt?

Robert Kümpel

"Die Menschen folgen nur dann einem Hirten, wenn sie ihn kennen und ihn ehrlich und dienstbereit erleben. Sie müssen spüren, dass er sie liebt und auch Zeit für sie hat."

Kümpel: Ich habe immer wieder erlebt, dass die Gläubigen vor allem einen Seelsorger suchen, der zunächst einmal einfach da ist und ihr Leben teilt. Seelsorge setzt Glaubwürdigkeit und Vertrauen voraus. Die Menschen folgen nur dann einem Hirten, wenn sie ihn kennen und ihn ehrlich und dienstbereit erleben. Sie müssen spüren, dass er sie liebt und auch Zeit für sie hat. Erst dann kommen sie aus der Deckung mit ihren Sorgen und Problemen und glauben daran, dass das Evangelium auch Chancen für ihr eigenes Leben eröffnet. Eine Seelsorge, in der Rechthaberei, autoritäres Verhalten, Machtkämpfe und bloße Berufung auf Amtsvollmacht an der Tagesordnung sind, ist für sie uninteressant.

DOMRADIO.DE: Wie wichtig wird es am Ende des Lebens, sich mit sich selbst, aber auch den aktuellen kirchlichen Entwicklungen oder gar Brüchen im Zwischenmenschlichen zu versöhnen?

Bis heute ist Prälat Robert Kümpel regelmäßig im Dom anzutreffen / © Beatrice Tomasetti (DR)
Bis heute ist Prälat Robert Kümpel regelmäßig im Dom anzutreffen / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Kümpel: Natürlich sehe ich im Rückblick manche kleinen oder größeren Fehler auch bei mir, die ich heute bedauere. Die Missbrauchskrise hat eine Reihe von Schwächen und Fehlern im Leben unserer Kirche drastisch offengelegt. Vieles davon ist schon aufgezeigt und diskutiert worden. Man kann nicht alles damit entschuldigen, dass vieles nicht bekannt war oder Verantwortliche manches gar nicht wahrhaben wollten. Und erst recht hätte es nicht darum gehen dürfen, vor allem die Institution Kirche schützen zu wollen, sondern primär das schuldhafte Versagen des Einzelnen abzuwehren. Ich habe mich oft gefragt, wie weit ich zu manchen dieser Fehleinstellungen selber mit beigetragen habe. Dieser persönlichen Erkenntnis muss sich jeder stellen und sich bei allem eigenen Bemühen mit seiner Begrenztheit und Fehlerhaftigkeit versöhnen, in der Hoffnung, dass Gott aus den Bruchstücken eines Lebens doch noch ein überzeugendes Ganzes schaffen kann. 

DOMRADIO.DE: Mit welchen Gefühlen schauen Sie heute – auch aus einer gewissen zeitlichen Distanz und vielleicht sogar Gelassenheit – auf Ihr priesterliches Leben zurück? 

Kümpel: Das Ganze war ein Abenteuer. Ich danke Gott für den Schutz, den er mir in vielen kleinen und größeren Dingen geschenkt hat, für manche gnädige Fügung und viel unverdientes Gelingen im täglichen Bemühen. Ich bin froh über zahllose beflügelnde Begegnungen mit anderen Menschen, die mich bereichert und mir oft Mut gemacht haben. Und ich bin dankbar für immer wieder neue kleine Momente, die mich die beglückende, wenn auch verborgene Nähe meines Herrn Jesus Christus erleben ließen und mich durch so manche Wüstenstrecke und Krise hindurchgetragen haben. Ich habe mich auf diesem Weg nie verlassen, sondern immer behütet und geführt erlebt.

DOMRADIO.DE: Ich kenne Sie als einen Seelsorger, der immer aus einer tiefen Spiritualität heraus gelebt hat und auch bereit war, über seinen Glauben zu sprechen und davon anderen abzugeben. Lange noch über Ihren Ruhestand hinaus waren Sie vielen Geistlicher Begleiter. Trägt diese innere geistliche Haltung, die Liebe zu Jesus Christus, auch angesichts des nahenden Todes noch?

Kümpel: Ja, sie trägt auch dann noch. Ich muss aber bereit sein, mich meinem Gott wirklich anzuvertrauen. Er sendet immer wieder kleine Zeichen des Trostes und seiner verborgenen Gegenwart im Alltag. Allerdings muss ich wach genug sein, immer wieder nach solchen Signalen Ausschau zu halten und auch Durststrecken auszuhalten. Beim Glauben geht es letztlich nicht um ein Leistungsprogramm, sondern um eine kostbare Beziehung, die ich pflegen und verdichten soll – auch im Gebet. Das Schlimmste wäre, wenn ich von meinem Gott einfach nichts mehr erwartete.

DOMRADIO.DE: Welche Rolle spielt denn das Gebet?

Kümpel: Das Gebet ist sozusagen der Raum meiner täglichen Begegnung mit Gott. Meist ist das für mich – abgesehen von der Messfeier – die Stunde vor dem abendlichen Zu-Bett-Gehen. Da können aller Druck und alle Spannung des Tages abfallen, und ich kann Gott die Dinge vortragen, die mich aus der Situation des vergangenen Tages noch bewegen, belastend oder frohmachend, je nachdem. In diesem Gespräch kann ich Gottes geduldige Nähe spüren – und oft bahnt sich dann unmittelbar schon ein neuer Gedanke, eine Lösung für meine Themen an.

Robert Kümpel

"Wenn Gott in den Dingen mit drin ist, verwandelt sich alles."

Sowie ich spüre, dass Gott an meinen Sorgen Anteil nimmt, beginnt sich meine Situation zu verändern, nicht als ob alle Probleme per Zauberstab verschwinden, aber es kommt eine neue Dynamik hinein, neuer Mut, Schwierigkeiten anzugehen, ein Unrecht zu vergeben, Bereitschaft, sich mit jemand auszusprechen usw. Wenn Gott in den Dingen mit drin ist, verwandelt sich alles. Gebet ist eben nicht eine geforderte Leistung, sondern ein Gesprächsangebot Gottes. Und wenn ich mich immer wieder auf das Gebet einlasse, dann bekomme ich auch allmählich mit, wann und wie Gott redet.

Zuletzt noch hat Robert Kümpel an der Priesterweihe im Kölner Dom teilgenommen / © Beatrice Tomasetti (DR)
Zuletzt noch hat Robert Kümpel an der Priesterweihe im Kölner Dom teilgenommen / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Hat sich Ihr Glaube in den letzten Jahren und Monaten, seitdem Sie sich kräftebedingt merklich zurückgezogen haben, noch einmal verändert? Unterliegt er vielleicht einer besonderen Prüfung?

Kümpel: Nicht umsonst gibt es den flott dahingesagten Spruch "Alt werden ist nichts für Feiglinge". Ich muss zugeben, das stimmt. Das Erleben, dass die eigenen Kräfte abnehmen und viele Aktivmöglichkeiten immer mehr eingeengt werden, ist schon eine massive Herausforderung. Wir werden mit der Nase darauf gestoßen, dass wir nicht Herren unseres Lebens mit voller Souveränität über unser Dasein sind – obwohl wir es gerne wären. Aber diese manchmal sicher harte Prüfung ist zugleich eine Einladung, dass es noch jemand anderes gibt, der brennend an uns und unserem Leben interessiert ist, sich als Zielpunkt unseres Daseins anbietet und der die letzte Erfüllung all unserer Sehnsucht sein will. Wenn ich mich diesem Du zuwende, habe ich die Chance, den Sinn dieser herausfordernden Prüfung am Ende meines Lebens besser zu verstehen und zu bejahen.

DOMRADIO.DE: Nicht zuletzt in der Hospizbewegung lernen wir: Sterben gehört zum Leben. Was ja nichts anderes heißt, als sich bewusster der Endlichkeit des Lebens zu werden und diese Endlichkeit weder als Schrecken noch als Bestrafung zu begreifen. Ist das denn wirklich so: Kann man Sterben ins Leben integrieren und gelassen dem Sterben entgegensehen?

Robert Kümpel

"Wer das Vertrauen haben kann, dass Gott ihn ganz persönlich liebt und für ihn sorgt – auch wenn nicht alle Blütenträume reifen – der kann sich die Gelassenheit leisten, die letzte Wegstrecke seines Lebens mit Zuversicht zu gehen."

Kümpel: Aus Umfragen wissen wir, dass viele unserer Zeitgenossen nicht an ein Leben nach dem Tod glauben oder glauben können. Vielleicht hängt das mit tiefgehenden Enttäuschungen zusammen, die sie in ihrem Leben erfahren haben und die sie in dieser Lebens-Grundfrage nicht nochmals erleben wollen. Vielleicht können sie beim Anblick unserer heutigen Welt auch nicht mehr an einen Sieg des Guten glauben oder aber sie haben nie einen barmherzigen Gott kennengelernt. Wer aber das Vertrauen haben kann, dass Gott ihn ganz persönlich liebt und für ihn sorgt – auch wenn nicht alle Blütenträume reifen – der kann sich die Gelassenheit leisten, die letzte Wegstrecke seines Lebens mit Zuversicht zu gehen. Und ich bin sicher, dass er oder sie nicht enttäuscht wird. 

DOMRADIO.DE: Was bleibt von uns Menschen, wenn unser irdisches Dasein endet? Mit welcher Hoffnung gehen Sie den letzten Schritt? 

Kümpel: Als Christ glaube ich, dass wir nach dem Tod zu einem neuen Leben auferstehen und dass ich vielen Menschen, mit denen ich in dieser Welt zu tun hatte, dort wiederbegegnen werde. Dass Gott meine bruchstückhaften Versuche, etwas für die Menschen zu tun, in überreicher Fülle vollenden wird. Dass vor aller Augen sichtbar wird, wie er jede und jeden von uns in allen Einzelheiten unseres Alltags geführt und begleitet hat. Dass und wieso die Liebe in allen Dingen dynamischer und stärker ist als alle Bosheit und aller Hass, die wir heutzutage immer wieder erleben. Und dass wir alle sehr staunen werden, wenn Gott aus seiner Verborgenheit heraustritt und sich zeigt, wie er wirklich ist.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Quelle:
DR