Sofia und Isabel stellen die Wahlurne auf den Kopf. Heraus fallen knapp 600 Wahlzettel aller Schülerinnen und Schüler, die sich an den Juniorwahlen, einer der größten Schulkampagnen Deutschlands zur politischen Bildung, in der Kölner Ursulinenschule beteiligt haben. Dann gibt sich ein achtköpfiges Team daran, die langen Wahlzettel – immerhin sind hier alle 35 Parteien aufgelistet, die an diesem Sonntag für das Europaparlament zur Wahl stehen – sorgfältig auseinanderzufalten, auf mehrere Stapel zu legen und auszuwerten.
Dieser simulierte und doch realitätsnahe Wahlakt macht allen sichtlich Spaß und ist Teil eines handlungsorientierten Unterrichts. Denn die Schülerinnen und Schüler haben die Wahl größtenteils in Eigenverantwortung organisiert und durchgeführt. Sie fungieren als Wahlhelfer, haben einen Wahlvorstand gebildet und im Vorfeld dafür Wahlbenachrichtigungen, Wählerverzeichnisse, Wahlkabinen und eine Wahlniederschrift erhalten. Den Höhepunkt bildet dann die Wahl selbst, an der sich alle Schülerinnen und Schüler ab der achten Klasse beteiligen können. Die Ergebnisse – auch das ist spannend für die Jugendlichen – werden zunächst unter Verschluss gehalten. Schließlich sollen sie auf den tatsächlichen Wahlausgang am Sonntag keinen Einfluss nehmen. Welche Partei bei den Jugendlichen das Rennen gemacht hat, wird erst am Montag schulintern veröffentlicht. So wie es auch die bundesweit 5000 anderen Schulen handhaben, die sich an den Juniorwahlen beteiligen.
Podiumsdiskussion mit Parteienvertretern
"Um sich überhaupt eine Meinung bilden und sich dann für eine Partei entscheiden zu können, haben wir uns vorher im Unterricht intensiv mit den Zielen und Positionen der einzelnen Parteien auseinandergesetzt und viel über die in den Wahlprogrammen aufgeführten Themen Migration und Klimawandel, aber auch die Bedeutung der Europäischen Union diskutiert", erklärt Stefan Hörstemeier, Lehrer für Sozialwissenschaften und Mathematik.
Wie von selbst wären dann auch der demografische Wandel, der Fachkräftemangel oder Fragen zum Ausstieg aus der Atomkraft aufs Tapet gekommen. Außerdem hat der 47-Jährige die Jahrgangstufen der potenziellen Wähler, aber auch Delegierte aus unteren Klassen zu einem Podium in die Aula eingeladen, auf dem namhafte Europaabgeordneten bzw. Wahlbewerber der vier Parteien aufgetreten sind, die bei den Europawahlen 2019 in Köln die meisten Stimmen erzielt hatten. Eine solche Diskussionsrunde veranstaltet seit Jahren vor Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahlen. Schließlich dient ein Live-Forum dazu, Informationen aus erster Hand zu bekommen und einen politischen Austausch einmal hautnah zu erleben.
"Da geht einem richtig das Herz auf, wenn bei den Schülern mit einem Mal etwas aufbricht und ein lebhaftes Interesse an der politischen Debatte entsteht", so der Oberstudienrat. "Letztlich wird für unsere Zukunft entscheidend sein, dass wir auch in der jungen Generation Demokraten haben, die Verantwortung für unser Land wahrnehmen und scheinbar einfache Lösungen, wie manche Partei sie suggerieren will, hinterfragen. Politik ist nun mal komplex." Trotzdem, argumentiert Hörstemeier, sei er als Lehrer zur Neutralität verpflichtet und dürfe niemanden diffamieren, lediglich Rechtsradikalität benennen oder darauf hinweisen, wenn es Untersuchungen vom Verfassungsschutz gibt. "Eine Wahlbeteiligung von mehr als 85 Prozent bei den vergangenen Juniorwahlen am Ursulinengymnasium macht deutlich, wie ernst diese Wahl von der Schülerschaft genommen wird."
Nur vage Ahnung, wofür eine Partei steht
Michaela Schreiber, Studienrätin im Kirchendienst an der Erzbischöflichen Liebfrauenschule in Köln-Lindenthal, nimmt ebenfalls seit Jahren anstehende Wahlen zum Anlass, die politische Bildung ihrer Schülerinnen und Schüler zusätzlich mit Extras wie der Juniorwahl und einer Podiumsdiskussion, zu der auch sie offizielle Parteienvertreter einlädt, zu fördern. Denn als Lehrerin für SoWi und Englisch, die in allen Jahrgangsstufen unterrichtet, weiß sie, dass politische Bildung ein wichtiger Schlüssel für nachwachsende Generationen überzeugter Demokraten ist. "Auch wenn viele unserer Schüler aus bildungsnahen Schichten kommen, haben sie oft doch nur eine vage Ahnung, wofür die einzelnen Parteien am Ende wirklich stehen", beobachtet die Pädagogin. "Schon die Jüngsten sehen überall in der Stadt Wahlplakate, fragen von daher neugierig nach und zeigen damit ihr Interesse an politischen Themen." Ihr ist wichtig, darauf einzugehen und über die unterschiedliche Europa-Politik der jeweiligen Partei zu informieren, damit schon Siebtklässler verstehen, wer wofür eintritt.
"Vor allem aber geht es darum, dem wachsenden Rechtsdruck Einhalt zu gebieten", betont die 49-Jährige. Außerdem sei ihr ein Anliegen zu vermitteln, dass mit Bürgerrechten auch Verantwortung einhergehe und jeder die Chance zur Mitgestaltung nutzen könne, um seinen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. "Damit jeder Erstwähler auch weiß, dass sein Kreuzchen Einflussnahme bedeutet, muss er sich klar machen, um was es bei dem Projekt Europa überhaupt geht und wie sehr es jeden Einzelnen betrifft."
Für die meisten sei die europäische Idee weit weg und die Europawahl – anders als eine Bundestagswahl – eher abstrakt. "Wenn es aber dann um gesetzliche Regelungen zu genmanipulierten Mais, einen einheitlichen Kabelanschluss oder gemeinsame Vereinbarungen zum Klimaschutz geht, wird es mit einem Mal für die Jugendlichen doch sehr konkret. Dann merken sie, dass eine Europawahl ja doch mit ihrem Alltag zu tun hat. Dafür ein Bewusstsein zu wecken, ist schon ein großer Erfolg."
Für Dieter Dücker, Lehrer für Sozialwissenschaften und Erdkunde am Erzbischöflichen Irmgardis-Gymnasium in Köln-Bayenthal, spielt der Toleranzbegriff eine ganz zentrale Rolle in seinem Unterricht. "Ein Europa, wie ich es mir vorstelle, ist von Toleranz geprägt. Schließlich ist Toleranz die Voraussetzung dafür, etwas Neues kennenzulernen, und die Grundlage jedweder Demokratie, nämlich indem ich mich anderen Sichtweisen gegenüber – und davon gibt es in ganz Europa viele unterschiedliche – tolerant zeige", erklärt der Studiendirektor, der in jedem Jahr an seiner Schule zur Sensibilisierung für dieses Thema einen "Europatag" initiiert. "Die Gefahr von Rechts ist stark", warnt Dücker. "Als Schule und Gesellschaft müssen wir dagegen halten und aufzeigen, dass Anderssein keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung ist, weil es am Ende dann eben doch auch gemeinsame Werte gibt, auf die wir uns stützen können." Und mit Nachdruck fügt der 59-Jährige noch hinzu: " Bunt ist doch schön."
Auch Dücker hat im Vorfeld der Europawahl die führenden Vertreter der vier großen demokratischen Parteien zu einer Podiumsdiskussion mit der Q1 und Q2 eingeladen und nach eigener Aussage nie Schwierigkeiten gehabt, hochrangige Repräsentanten für eine solche Lehrveranstaltung zu gewinnen. Ohnehin stehe "Europa" im zweiten Halbjahr der Q1 auf dem Lehrplan, "eben weil es ein so wichtiges Thema ist". Nun hofft er, dass möglichst viele der Schüler auch von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Die 16-jährigen Erstwähler, stellt er fest, seien jedenfalls "supermotiviert". Aber selbst in den jüngeren Jahrgängen der Sek I sei Europa Teil des Unterrichts und wecke großes Interesse.
Wahl-O-Mat als Entscheidungshilfe
Als beliebte Methode setzt Dücker in seinem SoWi-Leistungskurs außerdem gerne den Wahl-O-Mat ein, eine internetbasierte Wahlentscheidungshilfe, die seit 2002 von der Bundeszentrale für politische Bildung betrieben wird, alle Parteien, selbst die kleinsten, mit einem jeweiligen Kurz-Profil vorstellt und auch grundsätzliche Infos zu Politik und Wahlen liefert. Vorteil: Der Wahl-O-Mat, der sich vor allem an Jungwähler wendet, bietet Bürgern die Möglichkeit, durch die Bewertung vorausgewählter politischer Thesen – in der Summe sind es 38 – die eigene Meinung mit den Meinungen der zur Wahl stehenden Parteien zu vergleichen und auf diese Weise herauszufinden, welche Partei den eigenen Vorstellungen am ehesten entspricht.
Ein Instrument, mit dem auch Theodor Gatzweiler, Lehrer für Wirtschaftslehre, Politik und Katholische Religion am städtischen Berufskolleg Kartäuserwall, gerne arbeitet. "Wer sich vorher im Dschungel der vielen Parteiprogramme kaum zurechtgefunden hat, sieht nach der Beschäftigung mit dem Wahl-O-Mat klarer und kann für sich dann meist eine Wahlentscheidung treffen." Und darauf komme es ihm schließlich an: seine Schülerinnen und Schüler, die die jüngste Wählergruppe, die 16- bis 19-Jährigen repräsentierten, zu politisch mündigen Bürgern zu erziehen. "Darin liegt meine Hauptmotivation: dass die Schüler Lust bekommen, selbst zur Wahl zu gehen und auch ihr privates Umfeld zum Urnengang zu ermutigen. Denn eine solche Wahl ist ein wesentlicher Baustein, um unsere demokratische Grundordnung zu erhalten." Eine fundierte Beschäftigung mit den Parteien – auch mithilfe von Pro- und Contra-Diskussionen sowie entsprechenden Argumentationshilfen, um mit ihren Inhalten vertraut zu werden – sei dabei unerlässlich.
Um in der Kürze der Zeit möglichst der ganzen Klasse über die Vielfalt der deutschen Parteienlandschaft einen Überblick zu verschaffen, sollte sich zusätzlich jeder Schüler mit nur einer einzigen Partei befassen – dafür aber intensiv – und den anderen deren Kernsätze bzw. -anliegen referieren. Alle Essentials zur Europawahl hat der Pädagoge dann nochmals final in einer Klassenarbeit abgefragt und darüber hinaus einen außerschulischen Aktionstag für Neuwähler beworben, bei dem die Schüler erfahren konnten, was die EU für jeden Einzelnen im Alltag bedeutet und worin die eigene, ganz individuell motivierte Mitgestaltung einer demokratischen Gesellschaft liegen könnte.
"Das Europäische Parlament ist die einzige direkt gewählte transnationale Versammlung der Welt. Was für eine Errungenschaft!", argumentiert Gatzweiler. "Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments vertreten die Interessen aller EU-Bürgerinnen und Bürger auf europäischer Ebene. Von daher darf uns eine solche Wahl nicht egal sein. Europa geht uns alle an."