Allein die nackten Zahlen sind erschütternd: 155 Morde bei insgesamt 805 Angriffen auf Menschenrechtsprogramme registrierte die Nichtregierungsorganisation "Somos Defensores" (Wir sind Verteidiger) in Kolumbien im vergangenen Jahr. Doch hinter den Ziffern stehen Schicksale: Kinder, die ihre Väter oder Mütter verloren haben. Familien, die um ihre Angehörigen trauern, nur weil sich diese gegen soziale Ungerechtigkeit oder für die Rückgabe von geraubtem Land eingesetzt hatten. "Die Attentate, die Morde, die Aggressionen, die Drohungen halten weiter an", sagt Projektkoordinatorin Diana Sanchez am Rande der Vorstellung des Jahresberichts von "Somos Defensores" in der kolumbianischen Hauptstadt Bogota.
Für die anhaltende Gewalt gebe es zahlreiche Ursachen, so Sanchez weiter. Entscheidend sei allerdings auch, "dass es keine strukturelle Politik der Regierung gibt, die solche Aggressionen unterbindet". Eine solche Politik müsse jenen Schutz und Garantien anbieten, die bedroht werden oder das Ziel von Attacken werden könnten. Hier habe der kolumbianische Staat bislang keine passende Antwort gefunden.
Kritik an Kirche: Müsste noch lauter sein
Zugleich müsse die Staatsanwaltschaft größeres Engagement bei der Aufklärungsarbeit zeigen. Zwar rühme sich die Ermittlungsbehörde mit einer hohen Aufklärungsquote, tatsächlich liege diese nach eigenen Berechnungen von "Somos Defensores" aber bei nur 8,8 Prozent. Diese Straflosigkeit trägt aus Sicht der Aktivistin dazu bei, dass die Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger nicht nachlasse. Wenn solche Taten nicht bestraft würden, sinke die Hemmschwelle. Für die anhaltenden Attacken seien überwiegend paramilitärische Gruppen verantwortlich, allerdings gebe es auch eine große Anzahl ungeklärter Fälle, so "Somos Defensores". Zudem griffen auch die ELN-Guerilla und abtrünnige Kämpfer der linksgerichteten Ex-Guerilla FARC weiterhin zu den Waffen.
Eine besondere Rolle kommt deshalb der internationalen Staatengemeinschaft zu, heißt es in dem Jahresbericht. Sie müsse die Situation in Kolumbien genau beobachten und Druck auf die Regierung von Präsident Ivan Duque ausüben, damit sich die Lage für Menschenrechtler verbessere. Auch die katholische Kirche könne mehr tun, sagte Sanchez. "Die Kirche hat sich mit ihren Hilfsprogrammen immer hinter die Menschenrechtler und sozialen Aktivisten gestellt. Aber sie könnte noch mehr tun. Die Kirche verfügt über ein hohes Ansehen und eine moralische Autorität in Kolumbien. Vielleicht könnte sie mit noch lauterer Stimme sprechen und auf die Situation hinweisen."
Steigende Zahl von Gewalttaten
Die nun veröffentlichte Zahl von 805 Angriffen ist die bislang höchste seit Beginn der statistischen Erfassung der Attacken mit Hilfe eines eigens dafür erstellten Programms. Im Vergleich zum Vorjahreszeitraum stieg die Zahl der Attacken um 43,7 Prozent. Neben anderen Gründen habe vor allem der Rückzug der ehemaligen Guerilla-Organisation FARC ungeordnete Verhältnisse hinterlassen, die nun von illegalen Gruppen ausgenutzt würden. Der besorgniserregende Trend aus dem Jahr 2018 habe sich auch im laufenden Jahr fortgesetzt: Im ersten Quartal 2019 wurden demnach bereits erneut 245 Aggressionen gegen Menschenrechtsverteidiger registriert.
Im Jahr 2016 hatte die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos ein Friedensabkommen mit der Rebellenorganisation FARC geschlossen. Es beendete den mehr als 50 Jahre andauernden Bürgerkrieg. Für seinen Einsatz im Friedensprozess erhielt Santos Ende 2016 den Friedensnobelpreis. Zwar ist die allgemeine Mordrate und die Gewalt in Kolumbien seitdem rückläufig, die Zahl der Angriffe gegen Menschenrechtsverteidiger bleibt aber besorgniserregend hoch.