domradio.de: Worin äußert sich, dass Religion heute schon ein Thema der Minderheiten ist?
Barth: Ich finde nicht, dass das ein Minderheitenthema ist, es sind ja immerhin noch einige Millionen, die sich für Religion interessieren. Trotzdem ist offensichtlich, dass das Interesse an Christentum und speziell Kirche zurückgeht. Die Kirchenaustrittszahlen scheinen mir dabei nicht das wichtigste zu sein. In meiner Umgebung treffe ich auf viele Menschen, die ohne Religion, ohne Christentum, ohne Kirche glücklich leben, die also die Religion nicht brauchen. Oder gehen Sie mal in einen Zeitschriftenkiosk am Bahnhof, da gibt es ja weit über 1000 Zeitschriften. Und dann schauen Sie mal, in wie vielen es da um Religion geht. Und nicht nur in Deutschland hat das Interesse an religiösen Themen nachgelassen. Auch Italien ist nicht mehr ein religiöses Land wie ehedem. Das ist weltweit eine neue Entwicklung, die die Kirchen wahrnehmen und ernst nehmen sollten.
domradio.de: In Ihrem jüngst erschienenen Buch haben Sie sich ja gefragt, warum das so ist und ob konfessionslose Menschen glücklich sein können.
Barth: Das ist natürlich unterschiedlich. Aber selbst wenn die Menschen unglücklich sind, greifen sie ja nicht ohne Weiteres zu religiösen Angeboten. Man kann natürlich fragen, wie ist so eine Entwicklung denkbar? Bisher hat man ja angenommen, Religiosität sei dem Menschen in irgendeiner Weise angeboren. Aber in der neueren anthroposophischen Forschung zeigt sich, dass das durchaus eine umstrittene Annahme ist. In der soziokulturellen Entwicklung könnten sich weitere Schritte abzeichnen. Auch wenn man der Statistik nicht unbedingt glauben muss, ist es schon interessant, dass es um 1900 weltweit nur wenige Millionen religiös-desinteressierte Menschen gab, während man heute mit bis zu 900 Millionen rechnet. Man muss sich fragen, ist hier auch religionsgeschichtlich eine neue Entwicklung im Gang? Die Religionsgeschichte geht weiter: Es gibt eben nicht nur neue Religionen, sondern es kommt auch zu Areligiosität und Atheismus. Dieser Entwicklung müssen sich auch Kirche und Theologie stellen.
domradio.de: Wie sieht denn das religiöse Szenario in Deutschland in 20 Jahren aus?
Barth: Ich bin kein Prophet, aber man kann schon sagen, dass die Großkirchen abnehmen und vor allem die evangelischen Freikirchen zunehmen werden. Auch der Islam dürfte seine Attraktivität verlieren. Es sind ja jetzt schon mehr als Dreiviertel der Muslime, die sich nicht an eine Moschee-Gemeinde halten. Wichtiger als das religiöse Szenario finde ich aber ist die Frage, was denn mit dem Evangelium, mit dem Glauben der Menschen passiert. Und da müssen die Kirchen deutlich machen, es geht ihnen nicht um die Selbsterhaltung, sondern es geht ihnen um das Evangelium. Es geht ihnen darum, zu erschließen, was christlicher Glaube bedeuten kann. Der christliche Glaube hat ja auch immer eine stark religionskritische Komponente gehabt. Die muss stärker entdeckt werden. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der religiöse und areligiöse respektvoll miteinander umgehen.
domradio.de: Muss man denn als Religiöser überhaupt einer Kirche angehören, um gläubig sein zu können?
Barth: Das ist eben die spannende Frage: Kann man Christ sein, ohne dass man religiöse Bekenntnisse oder religiöse Rituale teilt? Und da denke ich, dass die Unterscheidung zwischen einer echten inneren Beziehung zu Gott und einer hergebrachten religiösen Praxis zunehmend wichtiger werden wird. Ich denke, hier sind neue Entwicklungen im Gang, die auch von Gott her begriffen werden müssen. Wenn wir Evolution überhaupt mit Gott zusammenbringen, dann kann so eine neue religionsgeschichtliche Entwicklung doch nur mit Gott selber zu tun haben. Von daher muss man der Areligiosität doch mal das Stigma des Negativen nehmen. Es könnte ja sein, dass sich das insgesamt für die Fortentwicklung des Christentums als sehr positiv und fruchtbar erweist. Mir käme es darauf an, die Areligiosität wirklich ernstzunehmen und vielleicht als neue Chance, einen Schub in der Entwicklung des Christentums zu begreifen.
domradio.de: Meinen Sie denn, die Kirchen müssten sich angesichts dieser Entwicklung irgendwie verändern? Oder würde das den Trend auch nicht mehr umkehren?
Barth: Ich denke, die Kirchen müssten sich darauf einstellen, dass sie sozusagen mehrsprachig werden. Sie werden auf der einen Seite ihre religiöse Sprache behalten, das ist sinnvoll, viele Menschen können ja auch damit leben. Auf der anderen Seite braucht es daneben Bemühungen um eine areligiöse Sprache, so dass areligiöse Menschen überhaupt verstehen, worum es dem Evangelium und der Kirche steht. Die Kirche muss insofern offener werden, muss sich auf die Sprache derjenigen einlassen, die die Kirche nicht mehr verstehen.