DOMRADIO.DE: Es gibt Bilder einer Überwachungskamera vom Sturm auf Beeri. Es sind schreckliche Bilder, die Terroristen hatten ein leichtes Spiel, es gibt keine Wachleute. Sie haben viele Jahre in Israel gelebt. Wie haben Sie diesen 7. Oktober und die Zeit danach erlebt?
Mona Yahia (Jüdisch-arabische Künstlerin und Schriftstellerin sowie Mitglied der jüdisch-liberalen Gemeinde Köln): Ich habe 14 Jahre in Israel gelebt. Meine Nichte hat am 7. Oktober morgens früh eine Email geschickt, sie schrieb: "Es geht uns gut." Ich habe es nicht verstanden, bis ich die Nachrichten gelesen habe. Da habe ich dann mitbekommen, was passiert ist. Aber das Ausmaß war uns da noch nicht bewusst.
DOMRADIO.DE: Haben Sie die schrecklichen Bilder vor Augen?
Yahia: Nein, ich habe gar keine Bilder, keine Filme und keine Clips gesehen.
DOMRADIO.DE: Bewusst?
Yahia: Sehr bewusst, ja.
DOMRADIO.DE: Israel war nach dem Holocaust für Juden und Jüdinnen weltweit eine Art Lebensversicherung, ein Ort, zu dem sie hin können, wenn die Lage sich für sie wieder verschlechtern sollte. Ist es das jetzt noch nach diesem 7. Oktober?
Yahia: Ich lebe nicht mehr in Israel, deshalb ist es schwierig für mich zu antworten. Aber ich weiß, dass es für mich als 16-jährige, die aus Bagdad geflohen ist, ein sicherer Ort war. Ich denke, die Unsicherheit ist etwas anders, wenn man als Jude in dieser Welt lebt. Ich würde sagen, ja. Aber andere sehen das vielleicht anders.
DOMRADIO.DE: Sie reisen immer wieder nach Israel und haben Kontakt zu den Menschen dort. Gibt es jemanden, den Sie jetzt vermissen?
Yahia: Das ist eher über Bekannte und Verwandte. Die Cousine einer meiner Freundinnen hat im Kibbuz Cholit gelebt und lebt nun nicht mehr. Ich habe auch eine Freundin, deren Freundin in Kibbuz Beeri lebte.
DOMRADIO.DE: Im Kölner Domforum gibt es am Abend ein Totengedenken. Es werden Namen verlesen, alle Namen der von den Hamas getöteten Menschen.
Yahia: Wir haben 1.200 Namen. Ich habe nach denen gesucht, die am 7. Oktober ermordet wurden oder gefallen sind, es werden auch Namen von Soldaten vorgelesen. Ob das alle sind, das weiß ich nicht. Wir hatten vier Quellen für unsere Liste: die israelische Tageszeitung Haaretz, Why News, The Times of Israel und Listen des israelischen Außenministeriums. Aber ich weiß, dass diese Liste nicht fehlerfrei und nicht komplett ist.
DOMRADIO.DE: Und Sie haben das alles recherchiert. Mit wie vielen Menschen werden Sie heute Abend lesen?
Yahia: Wir werden ungefähr 19 Menschen sein, die lesen. Wir lesen paarweise und jedes Paar liest 20 bis 30 Minuten. Dann machen wir fünf Minuten Pause und es wird gewechselt.
DOMRADIO.DE: Wie kann man sich das vorstellen? Wird nur ein Name vorgelesen?
Yahia: Nein, es wird der Name, das Alter, der Ort, aus dem die Verstorbenen kommen oder wo sie gelebt haben und wo sie ermordet wurden.
DOMRADIO.DE: Haben Sie ein Beispiel?
Yahia: Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Der erste Name hier: Michael Abramov, 55, aus Sderot, zu Hause ermordet.
DOMRADIO.DE: Sind das alles israelische Juden, die bei Ihnen auf den Zetteln stehen?
Yahia: Die meisten sind jüdische Israelis, aber es gibt auch beduinische und palästinensische Israelis. Es gibt fast 40 thailändische Arbeiter, es gibt nepalesische Studenten, Altenbetreuer und -betreuerinnen aus den Philippinen, Moldawien, Sri Lanka und auch einige ausländische Staatsbürger aus China, USA, Kanada, auch Deutschland.
DOMRADIO.DE: Die Hamas Mörder haben nicht gefragt, wer sie sind. Ist es eine jüdische Tradition, diese Namen zum Totengedenken vorzulesen?
Yahia: Ich meine, ja. Wir legen Wert auf den Namen. Eines der Bücher Moses heißt Shimod. Da sind Namen. Die religiösen Menschen, die Gott nicht beim Namen nennen wollen, nennen ihn Hashem. Das bedeutet "der Name". Das größte Unglück, das man einem Menschen wünschen kann, ist dass sein Name und seine Erinnerungen verschwinden sollen.
Das Interview führte Tobias Fricke.