Leon Weintraub schaut über das frühere Lagergelände, geht mit festen schnellen Schritten durch den Schnee, tief in seinen eleganten schwarzen Anorak versunken. Nur wenige Baracken stehen noch; von den meisten des schier endlosen Lagerkomplexes blieben nur die Grundmauern. Kurz vor der Befreiung durch die sowjetische Armee versuchten die Nazis die Spuren ihres hunderttausendfachen Mordes zu beseitigen und Gaskammern und Krematorien zu sprengen. "Der stinkende Rauch der Krematorien durchdrang alles, Tag und Nacht. Auch meine Mutter wurde hier verbrannt, ihre Asche achtlos weggeworfen", sagt Weintraub mit leiser, fester Stimme.
"Es ist sehr schwer, an diesen Ort zurückzukommen, an dem mir meine Würde genommen wurde." Doch es ist eine sorgfältig getroffene Entscheidung des 86-Jährigen. Er will genau hier, wo er als Jugendlicher um Haaresbreite dem Tod entkam, jungen deutschen Journalisten davon erzählen, was Deutsche damals Juden antaten. Er mutet sich zu, seine Erinnerung neu wachzurufen. "Ich hoffe, dass mein Erzählen eine Art Impfung sein kann, die immun macht für alle Lockrufe des Antisemitismus und Nationalismus."
Mahnung für die Zukunft
Seit mehreren Jahren organisiert die katholische Hilfsorganisation Maximilian-Kolbe-Werk rund um den Holocaust-Gedenktag in Oswiecim Begegnungen zwischen jungen Journalisten und Zeitzeugen. Eine Woche, in der NS-Geschichte Gesichter bekommt. Intensive Interviews und Lebensberichte wechseln sich ab mit Besuchen der Gedenkstätten. Am Abend wird am Laptop an Videos, Hörfunkstücken und Interviews gebastelt. So werden die Erinnerungen als Mahnung für die Zukunft in die nächste Generation getragen.
"Mich beeindruckt die Offenheit, mit der uns die ehemaligen Häftlinge begegnen", sagt Mathias Tertilt. Gebannt folgt der 25-Jährige von der Deutschen Journalistenschule den Schilderungen Weintraubs: wie der wissbegierige Klassenbeste der Grundschule im polnischen Lodz 1939 nicht aufs Gymnasium, sondern ins Ghetto kommt. Sich über Jahre nie satt essen kann, sein junges Leben für unwert erklärt wird. Dann die Deportation nach Auschwitz. "Für mich ist das eine unschätzbar wertvolle Erfahrung. Vielleicht ist es eine der letzten Gelegenheiten, diese Geschichten noch aus der Ich-Perspektive zu hören", sagt Tertilt nachher.
"Es geht nicht um Schuld"
Auch Pfarrer Manfred Deselaers betont, dass eine Epoche zu Ende geht: "Weil in absehbarer Zeit keine Zeitzeugen mehr leben werden, stehen wir an der Schwelle des Gedenkens", so der Geistliche, der seit mehr als 20 Jahren in Oswiecim lebt und arbeitet. "Am Rande von Auschwitz", wie er es nennt. Er gestaltete und prägt noch immer das in den 90er Jahren gegründete "Zentrum für Dialog und Gebet". Einen Ort, der allen offen steht, die sich mit der Geschichte jenes Ortes auseinandersetzen wollen, der zum Inbegriff des NS-Massenmords, der Vernichtung von Juden, aber auch Zehntausender Sinti und Roma, polnischer Intellektueller, Homosexueller und sowjetischer Kriegsgefangener wurde. Das Dialogzentrum in Sichtweite des ehemaligen Stammlagers ist eine Mischung aus Jugendherberge, Bildungs- und Exerzitienhaus. Es ermöglicht Projekte wie das des Kolbewerks.
Die Hälfte der Besucher kommt aus Deutschland, vor allem Schulklassen. Gerade weil hier so deutlich wird, wohin Ausgrenzung und Verachtung von Menschenwürde führen kann, eigne sich Auschwitz in besonderer Weise für die Friedensarbeit der Zukunft, ist Deselaers überzeugt: "Es geht heute nicht mehr um Schuld, sondern um die aus Auschwitz erwachsende Verantwortung für heute." Dazu gehört für ihn heute auch, wachsam gegenüber Pegida und der Ausgrenzung von Muslimen zu sein. "Oder auch Position zu Sterbehilfe oder Abtreibung nach einer pränatal diagnostizierten Behinderung zu beziehen. All das sind Fragen, die am Lernort Auschwitz behandelt werden müssen."