Lale Akgün über die Eindrücke ihrer Türkei-Reise

"Es brodelt ununterbrochen"

Lale Akgün, Referatsleiterin in der Staatskanzlei NRW für Internationale Angelegenheiten und Eine-Welt-Politik, ist gerade von einem Besuch in Istanbul zurückgekehrt. Im domradio.de-Interview spricht sie über die anhaltenden Proteste in der Türkei.

Die Jugend protestiert (dpa)
Die Jugend protestiert / ( dpa )

domradio.de: Tausende Menschen haben am Wochenende rund um den Taksim-Platz in Istanbul erneut demonstriert. Wie schätzen Sie die Lage im Land im Moment ein?

Akgün: Es mag gerade ruhiger erscheinen, auch im Vergleich zu der Situation in Ägypten. Aber es brodelt ununterbrochen. Erst gestern haben wieder Intellektuelle und Künstler einen offenen Brief an Erdogan geschrieben, in dem sie ihm mitteilten, dass sie um ihr Leben fürchten, weil er immer wieder Menschen, die anders sind, als er sich das vorstellt, als Zielscheibe darstellt und sie Angst haben müssen, von seinen Anhängern umgebracht zu werden.

Die Protestierenden setzen sich aus ganz vielen Einzelgruppen zusammen, man bezeichnet sie als "Die Anderen". Damit sind alle gemeint, bis auf die Anhänger von Erdogan. Darunter sind die Kurden eine wichtige Gruppe. Es geht allen Gruppen gemeinsam darum, dass ein liberaler Lebensstil, die Meinungsfreiheit und die Pressefreiheit in Zukunft möglich werden. Das ist leider zur Zeit der Fall. Die Demonstranten fordern ja auch die Freilassung von politischen Gefangenen und Journalisten und einen Umgang mit den Kurden als Bürger, wie alle anderen Türken auch. Die Pressefreiheit ist momentan nicht existent.

domradio.de: Sie sind mit den jungen Leuten ins Gespräch kommen. Wie nehmen die das Handeln von Staatschef Erdogan auf und welche Forderungen haben sie an ihn?

Akgün: Erdogan hat ja in den letzten Jahren einen Personenkult um sich herum betrieben, er fühlt sich als der große Vater der Nation. Das ging so weit, dass er anfing, den Menschen vorschreiben zu wollen, wie sie leben sollen, wie viele Kinder sie bekommen sollen, was sie essen sollen und was nicht, was sie im Fernsehen sehen dürfen und was nicht. Er hat das auf eine sehr aggressive Art und Weise getan. Und seine Leute sagen den Menschen, daran müssten sie sich gewöhnen. Und da haben die jungen Leute gesagt, dass sie sich daran nicht gewöhnen wollen, dass sie nicht wollen, dass irgendjemand für sie bestimmt. In ihren Augen sollte ein Ministerpräsident Gesetze machen und das Land lenken, aber nicht das Privatleben seiner Mitbürger bestimmen. Das ist eine neue Generation, die sich nicht mehr von autoritären Vätern sagen lassen will, was sie zu tun und zu lassen hat. Das ist die wichtigste Gruppe, die sich jetzt gegen Erdogan positioniert, neben den anderen, älteren Bürgern, die genauso auf ihre freiheitlichen Rechte pochen.

domradio.de: Die Unruhen haben die Verhandlungen über die Aufnahme in die EU ins Stocken gebracht. Wie beurteilen die Menschen in der Türkei die Tatsache, dass die Verhandlungen erst im Herbst fortgesetzt werden sollen?

Akgün: Die Anhänger des EU-Beitritts sind froh, dass die Verhandlungen überhaupt noch fortgesetzt werden, weil die ganz große Sorge war, dass sich die EU völlig von der Türkei abwendet. Für die Gegner eines Beitritts ist es eigentlich egal, der Beitrittsprozess läuft für sie eh nebenbei.

domradio.de: Was kann Erdogan denn tun, um die Sache am Laufen zu halten?

Akgün: Er müsste den Ton verändern und auf die Demonstranten und auch die politischen Gegner eingehen. Er muss akzeptieren, dass nicht alle so denken wie er. Wenn er davon spricht, dass er 50 Prozent der Stimmen hat, muss er auch die anderen 50 Prozent respektieren, die ihn nicht gewählt haben und die nicht seiner Meinung sind. Er muss damit anders umgehen und Pluralität ertragen können. Der erste Schritt wäre, dass er alle freilässt, die im Laufe der Demonstrationen festgenommen worden sind: Anwälte, Ärzte und viele junge Leute. Er muss damit aufhören, die Protestierenden als Terroristen und Gesindel zu bezeichnen. Er muss ihnen auf Augenhöhe begegnen und mit ihnen reden. Dann müsste er bestimmte Gesetze, die jetzt die Runde machen, verhindern. Z.B. ein Gesetz für weitere Rechte für den Geheimdienst. Oder ein Gesetz, dass er als Präsident gewählt werden soll. Er will die Türkei in ein Präsidialsystem umformen. Er hätte also einiges zu tun, aber ich weiß nicht, ob er überhaupt noch in der Lage ist, Kompromisse einzugehen.

domradio.de: Treibt er sein Land in einen Bürgerkrieg, wenn er nicht einlenkt?

Akgün: Bürgerkrieg ist ein großes Wort. Er wird das Land nicht wieder zurückversetzen können in die Zeit vor dem 26. Mai. Die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Inzwischen schließen sich ja die jungen Menschen in über 180 politischen Foren zusammen. Sie kommen dort täglich zusammen und überlegen, wie sie ihre Forderungen politisch gestalten können. Sie versuchen Projekte zu gestalten, um die Menschen aufzuklären. Erdogan hat etwas zustande gebracht, womit viele nicht gerechnet hatten: Er hat die Jugend politisiert und die Jugend möchte jetzt ihre politischen Forderungen umsetzen können. Sie alle gehen völlig demokratisch vor. Sie wollen sich auf die nächste Wahl vorbereiten und dafür sorgen, dass Erdogan demokratisch abgewählt wird.

Das Interview führte Monika Weiß.


Quelle:
DR