KNA: Herr Professor Pickel, der gesellschaftliche Rückhalt der Kirchen nimmt ab, zugleich wird der Ruf nach Verteidigung des christlichen Abendlandes gegen den Islam lauter. Inwieweit ist das ein Thema für die Religionssoziologie?
Pickel: Das ist eines der zentralen neuen Themen der Religionssoziologie und vor allem der Forschung zu Politik und Religion. Es gibt ein fast paradoxes Zusammenspiel zwischen einer ungebrochenen Säkularisierung auf der einen Seite und so etwas wie eine "Rückkehr der Religion" in die öffentliche Diskussion. Dabei spielt Religion eine eher negative Rolle – sie dient vor allem rechtspopulistischen Akteuren zur Abwehr einer kulturellen Bedrohung. So wird vor allem die Zugehörigkeit zum Islam ein Merkmal zur Identifikation eines Gegners.
KNA: Gibt es verlässliche Zahlen zu dieser auseinanderdriftenden Entwicklung?
Pickel: Die Zahl der Konfessionslosen wächst seit den 1970er Jahren stetig und übersteigt bereits die Mitgliedschaften der einzelnen großen Kirchen in Deutschland. Auch die Zahl derer, die sich allgemein als religiös bezeichnen, sinkt konstant. Zugleich fühlt sich mehr als jeder zweite Deutsche vom Islam, was immer er auch darunter versteht, bedroht. In Ostdeutschland sind es noch mehr als in Westdeutschland, obwohl oder vielleicht weil dort fast keine Muslime leben.
KNA: Wie interpretieren Sie diesen Trend?
Pickel: Es handelt sich um zwei Trends, die teilweise unabhängig voneinander sind. Dabei hat die Tendenz, die religiöse Zugehörigkeit als Abgrenzungsmerkmal zu verstehen, einen wesentlich politischeren Charakter.
KNA: Kommt das überraschend für Sie?
Pickel: Die Säkularisierung ist nichts Neues. Erstaunlicher ist die Entwicklung, die religiöse Zugehörigkeit als Merkmal für Vorurteile gegenüber bestimmten Gruppen zu nutzen. Auch in der modernen westeuropäischen Gesellschaft spielt das offenbar noch eine beachtliche Rolle. Ausgelöst wurde dies sicher auch durch die starken Fluchtbewegungen nach Europa, bei denen die Geflüchteten pauschal meist als Muslime betrachtet werden.
KNA: Können die Kirchen davon profitieren?
Pickel: Wenn Menschen wieder in solchem Maß vor allem mit Blick auf ihren Glauben bewertet werden, provoziert dies auch die Frage nach der eigenen religiösen Identität. Grundsätzlich ist es aber denkbar, die Vorstellung eines christlichen Abendlandes auch als säkularer Mensch zu verteidigen. Allerdings haben die Kirchen in der Debatte über den Islam die Chance, in eine interkulturelle und interreligiöse Mittlerrolle hineinzuwachsen. Teilweise ist dies im Rahmen der Flüchtlingshilfe schon geschehen. Dadurch zeigen sie die aktuelle Relevanz von Religionen auf dem positiv bewerteten sozialen Sektor.
KNA: Sollten die Kirchen überhaupt versuchen, sich diese Entwicklung zunutze zu machen, wenn die "Verteidiger des Abendlandes" aus der rechtsextremen Ecke kommen?
Pickel: Lieber nicht. Ein zu starkes Beharren auf einer religiösen Identität, die sich aus Abgrenzung ergibt, kann große Probleme für das eigene Selbstverständnis aufwerfen. Sich mit Gruppen zu identifizieren, die Religion weitgehend strategisch für politische Ziele instrumentalisieren und faktisch ethnisieren, halte ich für wenig hilfreich. Sicher sollten sich Christen Gedanken über die eigene Identität machen und vor allem über die soziale und gesellschaftliche Bedeutung ihrer Religion. Auf eine vorurteilsbeladene Abgrenzung aufzuspringen, dürfte aber wenig hilfreich sein.
KNA: Inwieweit sind die Verfechter des Abendlandes offen für eine kritische Korrektur ihrer Weltsicht durch die Kirchen?
Pickel: Da stelle ich wenig Einsicht fest. Einige christliche Grundwerte wie das Gebot der Nächstenliebe stellen ja ein Problem für die "Verfechter des Abendlandes" dar. Sie vertragen sich nur sehr schlecht mit ihren mehrheitlich auf Ausgrenzung und Ablehnung ausgerichteten Positionen.
KNA: In jüngster Zeit ist immer wieder auch von einem christlich-jüdischen Deutschland die Rede. Gibt es ein gesellschaftliches Bewusstsein für eine auch jüdische Prägung unserer Kultur?
Pickel: Diese Nähe wird gerade in theologischen Diskussionen immer wieder betont, in der Bevölkerung ist diese Verbindung allerdings von nur geringer Bedeutung. Dort unterscheidet man deutlich zwischen beiden Religionen. Die meisten sehen eine historische Verantwortung der Deutschen gegenüber dem Judentum, allerdings fühlt sich auch jeder Fünfte durch das Judentum bedroht. Das deutet auf einen bemerkenswerten Anteil an zumindest sekundärem Antisemitismus, also eine Konfrontationsstellung gegenüber Israel, hin.