KNA: Herr Spiegel, wie wirkt sich die aktuelle Situation der katholischen Kirche in Deutschland auf Ihre Arbeit aus?
Pirmin Spiegel (Hauptgeschäftsführer des weltgrößten katholischen Entwicklungshilfswerks Misereor): Auf die Projekt- und Lobby-Arbeit von Misereor als Anwalt benachteiligter Menschen im Globalen Süden und für den Erhalt der Schöpfung hat die Situation der katholischen Kirche in Deutschland keine direkten Auswirkungen. Was Spenden angeht, stand zuletzt sogar mehr Geld als ein Jahr zuvor zur Verfügung. Mit Sorge erleben wir aber den sinkenden Gottesdienstbesuch und die zurückgehende Zahl von Pfarreien; ebenso geht mit den dort ehrenamtlich Engagierten ein Stück Basis der Arbeit von Misereor verloren.
Das wirkt sich etwa auf die jährliche Fastenaktion aus. Unser Werk lebt vom Einsatz und der Spendenbereitschaft von Gemeindemitgliedern für die Eine Welt. Für uns ist es wichtig, die Nähe und den Kontakt zu den Menschen zu halten, die in Gruppen, Schulen und Gemeinden unsere Anliegen wachhalten.
KNA: Wie macht sich die Vertrauenskrise - vor allem infolge des Missbrauchsskandals - konkret bemerkbar?
Spiegel: Die Vertrauenskrise schmerzt, beschäftigt und besorgt uns. Gleichzeitig wird uns von den Spenderinnen und Spendern nach wie vor großes Vertrauen entgegengebracht. Nur vereinzelt müssen wir feststellen, dass Menschen uns nicht mehr unterstützen wollen, weil wir Teil der katholischen Kirche sind. Die allermeisten bleiben solidarisch mit von Armut und Ungerechtigkeit betroffenen Menschen im Süden, vertrauen unserer Arbeit, auch unabhängig von den genannten Skandalen und Missständen.
KNA: Gibt es auch so etwas wie einen "Generalverdacht" oder sogar böse Kommentare - etwa nach dem Motto "Ihr kümmert Euch doch nur als Kirche um arme Kinder in der Welt, damit Eure Priester neue Opfer finden"?
Spiegel: Von einem "Generalverdacht" kann keine Rede sein. Das schließt nicht aus, dass es in seltenen Einzelfällen in den Sozialen Medien einmal derartige Kommentare geben kann.
KNA: Differenzieren die Menschen zwischen "die Kirche", "die Bischöfe" und der Arbeit der Hilfswerke? Oder erleben Sie eher, dass alles "in einen Topf geworfen" wird?
Spiegel: Wir stellen fest, dass die große Mehrheit der Menschen, mit denen wir in Kontakt sind, sehr genau zu unterscheiden wissen zwischen Missständen innerhalb der Kirche und der wichtigen Arbeit von Misereor in derzeit 87 Ländern der Welt. Großen Teilen der Bevölkerung ist offenbar bewusst, was die weltkirchlichen Werke für Menschen in Armut und für einen Bewusstseinswandel hin zu einer gerechteren sozial-ökologischen Transformation leisten. Klar ist aber auch, dass diese hohe Leistungsfähigkeit der Werke gefährdet ist, wenn unsere Kirche, deren Teil wir sind, keine Wege der Umkehr mit den Betroffenen geht.
KNA: Wie entwickeln sich die Kollekten - angesichts sinkender Zahlen bei Gottesdienstbesuchern?
Spiegel: Auch wir erleben hier Rückgänge, allerdings erfahren wir große Solidarität und Unterstützung auf anderen Wegen - etwa durch kreative Aktivitäten und Spenden bei Online-Veranstaltungen und durch eine Zunahme von Direkt-Spenden, gerade jetzt in der Corona-Zeit.
KNA: Wie gleichen Sie das aus?
Spiegel: Wir suchen kreativ an die aktuellen Möglichkeiten angepasste neue Wege, um Menschen zu einer Spende für unsere Arbeit zu bewegen, auch wenn wir sie über Gemeinden weniger gut erreichen. Der direkte Kontakt mit den Menschen, die von sich aus Lösungen suchen, wie sie uns unterstützen können, macht uns dabei Mut.
KNA: Wie beeinflusst Corona Ihre Arbeit?
Spiegel: Corona stellt insbesondere für unsere Projektarbeit in Afrika, Asien und Lateinamerika eine große Herausforderung dar. Viele Projektgelder müssen aufgrund der akuten Pandemiefolgen umgewidmet werden, um die großen Herausforderungen aufgrund von Covid-19 lindern zu können. Zudem bedeutet die Pandemie in vielen Bereichen der Entwicklungszusammenarbeit einen Rückschlag, weil eine Reihe von Erfolgen der Projektarbeit unserer Partnerorganisationen zunichte gemacht wurde. Hinzukommen die Herausforderungen für die Mitarbeitenden, die vor allem über Videokonferenzen mit unseren Partnerorganisationen in Kontakt bleiben - und das vielfach im Homeoffice. Wir sind aber insgesamt dankbar, feststellen zu können, dass trotz der schwierigen Bedingungen die Arbeit weitergehen kann.
KNA: Finden Sie noch genug Menschen, die sich in Eine-Welt-Kreisen oder ähnlichen Gruppen engagieren?
Spiegel: Wir sind froh, dass viele Menschen uns weiter ehrenamtlich und mit vielen guten Ideen unterstützen. Dennoch kann es schwieriger werden, weiter in genügender Menge Unterstützung zu finden, wenn das Gemeindeleben Erosionsprozessen ausgesetzt ist. Zugleich engagieren sich viele Menschen, die sich nicht in einer Pfarrei oder einem Verband beheimatet fühlen, aber für unsere Anliegen eintreten.
KNA: Nimmt die Aussage zu "Es gibt doch auch Arme bei uns - Warum müsst Ihr dann in Afrika oder Lateinamerika oder Asien helfen?"
Spiegel: Das nimmt nicht zu. Wir können, denke ich, mit guten Argumenten vermitteln, dass Armut bei uns und im globalen Süden differenziert ist und vielfach ähnliche Ursachen hat, die daher auch nicht getrennt angegangen werden können. Wir setzen uns für einen Systemwandel ein, hin zu einem würdevollen und gerechten Leben für alle, für ein Bewusstsein, dass die Missstände dieser Welt zusammenhängen und, wie Papst Franziskus nicht müde wird zu betonen, wir alle Verantwortung tragen für das "gemeinsame Haus Erde". Abgesehen davon sind die Werke der katholischen Kirche komplementär aufgestellt und stehen an der Seite der Menschen hierzulande und im Globalen Süden.
KNA: Ist es für Sie spürbar, ob eine Unzufriedenheit mit Kirche allgemein und in den Gemeinden dazu führt, dass Identifikation insgesamt abnimmt mit Kirche und auch die Bereitschaft, sich zu engagieren?
Spiegel: So pauschal stellen wir das nicht fest. Wir spüren, dass in Teilen der Gesellschaft die Bereitschaft zum Engagement eher zunimmt, etwa in der Bewegung "Fridays for Future", mit deren Zielen sich Misereor solidarisch zeigt. Die Identifikation mit der Kirche mag abnehmen, was für uns bedeutet, über die Gemeinden hinaus starke Präsenz zu zeigen und Kontakt aufzunehmen mit vielen, die nicht mehr an Angeboten des Gemeindelebens teilnehmen, sich jedoch weiterhin für globale Gerechtigkeit stark machen.