Leon de Winter über Barmherzigkeit

"Es gibt das Gute"

Der niederländischen Erfolgsautor Leon de Winter behauptet in seinem Roman "Geronimo", dass der Terrorist Osama bin Laden nicht getötet wurde. Dieser Agententhriller ist aber auch ein Roman über Barmherzigkeit. Ein domradio.de-Interview.

Leon de Winter / © Arne Dedert (dpa)
Leon de Winter / © Arne Dedert ( dpa )

domradio.de: Osama bin Laden ist in Ihrem Roman kein durchweg böser Terrorist, sondern ein Mensch, der Mitleid mit dem verkrüppelten, bettelnden Mädchen Apana hat. Er bringt sie nicht um, sondern gewährt ihr Unterschlupf in seinem Geheimversteck in Pakistan. Wie kann das sein?

Leon de Winter (Niederländischer Erfolgsautor): Bin Laden konnte sich schreckliche Dinge vorstellen, sie planen und finanzieren, aber was macht man, wenn man wirklich persönlich, ja körperlich konfrontiert wird mit jemand, der nur überleben kann über die Barmherzigkeit anderer?

domradio.de: Barmherzigkeit als Tugend des Islam ist ein Leitfaden auch für Osama bin Ladens Handeln in Ihrem Roman. Auch der junge pakistanische Christ John und seine Mutter kümmern sich um das Mädchen, nachdem Osama bin Ladens Versteck auffliegt. Die Mutter sagt: "Apana, du musst bleiben, weil du bessere Menschen aus uns machst". Barmherzigkeit als verbindende Tugend zwischen den Weltreligionen?

de Winter: So sollte es eigentlich sein. Für mich wäre Barmherzigkeit die Hauptlegitimierung von Religionen. Und das weiß man nur, wenn man konfrontiert wird mit Hilflosigkeit und Unvermögen. Unvermögen nicht aus Schwäche, sondern als Schicksal. Genau das stimuliert das Bettlermädchen bei den anderen und bringt sie menschlich nach vorne. Alle Figuren in meinem Roman – außer den Taliban – können dem Mädchen nicht ihren Rücken kehren ohne Scham. Sie hat keine Hände – und jeder stellt sich die Frage, bin ich im Stande, ihre Hände zu sein? Sogar bin Laden überfällt das. Und natürlich auch den pakistanischen Jungen John, der sich in die Bettlerin verliebt.

domradio.de: Apana erscheint in Ihrem Roman als eine fast übermenschliche Figur. Und auch John und seine Mutter sind ausnahmslos gute Christen. Wie realistisch ist das?  

de Winter: Wirklich, ich kenne solche Menschen. Das ist das Wunderliche des Universums. Es gibt das Gute und es gibt gute Menschen. Das hat nichts mit Evolution und dem Kampf ums Überleben zu tun, was Darwin herausgefunden hat. Nein, Selbstlosigkeit, das ist ein verrücktes Phänomen.

domradio.de: Selbst der knallharte US-amerikanische Elitesoldat Tom setzt viel aufs Spiel für dieses muslimische Mädchen. Er selbst ist Jude. Wie wichtig ist Ihnen der Gedanke, dass Menschen sich ungeachtet der Religion für andere einsetzen?

de Winter: Ich weiß das aus meiner Jugend. Meine Eltern haben den Zweiten Weltkrieg als Juden überlebt, weil sie Barmherzigkeit von anderen erfahren haben. Strenge Katholiken, Priester und Nonnen in einer Widerstandsgruppe im Süden von Holland, haben meinen Eltern geholfen. Sie hatten den Mut, das Höchste - ihr Lieben - zu riskieren, um meine Eltern zu retten. Ich bin aufgewachsen nicht nur mit dem Schrecken, sondern auch mit dem Wunder des Überlebens. Weil es Menschen mit großer Barmherzigkeit gab.

domradio.de: In Ihrem Buch beschreiben Sie auch die Situation der Christen in Pakistan, die in einer muslimischen Welt mit bestimmten Regeln überleben müssen. Da ist zum Beispiel die Angst des Pfarrers, das muslimische Mädchen Apana in der Gemeinde aufzunehmen. Wo haben Sie recherchiert?

de Winter: Ich habe sehr ausführlich mit pakistanischen christlichen Flüchtlingen gesprochen. Und eine Frau, die schon lange in Holland lebt, hat das Manuskript gelesen und korrigiert, um es so realistisch wie möglich zu machen, wie pakistanische Christen überleben müssen. In meinem Roman ist nichts übertrieben, sondern so, wie es in Wirklichkeit ist. Christen haben es sehr schwer in Pakistan. Aber es sind auch solche Erfahrungen, die Menschen sehr human machen. Weil sie die Schrecken und Alpträume erlebt haben, sind sie auch völlig durchdrungen von den großen Wundern des Lebens. Sie wissen, das nichts selbstverständlich ist.

domradio.de: Am Schluss verschwindet Apana. Es gibt zwar immer wieder Spuren von ihr, aber die ewige Herausforderung des schwachen Menschen an die Menschheit bleibt bestehen. Und Tom kann nicht anders, als ihr zu folgen, sie zu suchen. Was treibt ihn an?

de Winter: Das ist vielleicht das Wesen unserer Zivilisation, was uns zu Menschen macht. Das Gefährlichste ist die Indifferenz. Und Tom fühlt sich verantwortlich. Er ist nicht im Stande, diese Verantwortlichkeit aufzugeben. Er hat die Hoffnung, einmal das Mädchen wiederzufinden, um für sie sorgen zu können. Dieser Militär versteht, dass seine Rolle ist, zu sorgen, verantwortlich zu sein und zu schützen.

domradio.de: Zum Schluss des Romans sagt Tom: "Ich habe Wut." Haben Sie auch Wut?

de Winter: Die habe ich auch – glücklicherweise nicht den ganzen Tag. Glücklich kann ich sein, weil ich ziemlich zufrieden bin, ich mich gesegnet fühle mit meinem Leben, mit meiner Frau und meinen Kindern und den Möglichkeiten, die ich habe. Aber da gibt es noch viel zu verbessern. Wie weit ich damit komme, das weiß ich nicht, aber ich muss die Welt verbessern.

Das Interview führte Birgitt Schippers.


Quelle:
DR