Normalerweise stehen hier die sogenannten "Party People" dicht an dicht, drängen auf die Tanzfläche, an die Bar, an die Bühne. Normalerweise – also wenn gerade keine Corona-Krise Stadt und Land im Haltegriff hat. Heute Abend aber tönt es ziemlich fromm durch die Live Music Hall in Köln-Ehrenfeld: "Maria durch ein Dornwald ging" und dann "Ihr Mächtigen, ich will nicht singen eurem tauben Ohr!"
"’Ihr Mächtigen’ ist unser heimlicher Hit, den haben bei uns seit 30 Jahren alle Generationen gerne gesungen", sagt Michael Kokott. Der Leiter des renommierten Kölner Jugendchors Sankt Stephan steht am Keyboard statt am Klavier. Und er lässt seine Sängerinnen und Sänger ihren heimlichen Hit auch jetzt und hier anstimmen, in diesem Moment großer Ungewissheit, am Abend des Tages, an dem Bund und Länder wieder drastische Corona-Beschränkungen verkündet haben. An die 80 junge Frauen und Männer sind trotzdem zum Proben in die Party Location gekommen. Sie stehen weiträumig verteilt, zwei Meter zur Seite, zwei Meter bis zur Vorderfrau oder zum Hintermann. Immer tragen sie ihre Masken, nur beim Singen selbst nicht.
Adventskonzert am dritten Adventssonntag?
"Das ist das einzig Gute gerade: dass wir an so interessanten Orten üben, jetzt zum Beispiel die ganze Live Music Hall für uns haben", meint Stefanie Rohrmann. Die 23-Jährige ist seit vier Jahren im Sopran dabei und hat wie all die Anderen seltsame Chor-Zeiten hinter sich. Vom völligen Verzicht des öffentlichen Singens im Lockdown über die vorsichtige Wiederaufnahme ab Juni bis hin zur neuen Corona-Normalität, die allerdings mit den jüngsten Verordnungen auch schon wieder vorbei sein dürfte. "Nach der langen Pause waren wir viel motivierter als davor", erzählt Johanna Köhn (24), ebenfalls Sopran. "Wir wollten jede Sekunde nutzen!"
Schließlich plant der Jugendchor sein traditionelles Weihnachtskonzert am dritten Adventssonntag in der Oper im Staatenhaus; und hält vorerst am Plan fest, dann tatsächlich zum ersten Mal seit Karneval wieder auf der Bühne zu stehen. "Wir hoffen, dass dieser kleine Lockdown jetzt etwas bringt, dass die Zahlen runter gehen, dass unser Konzert nicht verschoben oder ganz abgesagt werden muss", sagt Johanna; Stefanie nickt.
Beide singen leidenschaftlich gerne, lieben die Gemeinschaft im Jugendchor und sind traurig, dass ausgerechnet der Gesang in dieser Krise so gefährlich geworden ist. Zurück auf ihren Plätzen stimmen Stefanie und Johanna in "Jingle Bells" ein und sehen zufrieden aus. Denn auch wenn die Sängerinnen und Sänger so weit auseinander stehen, "ergibt der Klang ja ein großes Ganzes", formuliert es Chorleiter Kokott. Das spürten alle, meint er, egal ob am Eingang der Halle, an der Bühne oder der geschlossenen Bar. "Da bildet sich etwas wie ein Netz aus Tönen. Faszinierend, gerade auch, weil wir es sonst ja gewohnt sind, im Pulk zu stehen." Jetzt sei jede einzelne Stimme noch einmal anders herausgefordert.
Über das Netz miteinander verbunden
Es klinge vielleicht paradox, meint Michael Kokott, aber die Corona-Krise habe den Chor weiter zusammenwachsen lassen. Für ihn selbst, erzählt er, sei mit der ersten Corona-Welle erst einmal eine Welt zusammengebrochen, seine Arbeitsgrundlage zunächst komplett entzogen worden. Doch die Leute vom Jugendchor Sankt Stephan sind übers Netz immer miteinander verbunden geblieben, haben jeder für sich zu Hause Aufnahmen gemacht und sie zu Videos zusammenbauen lassen, die dann hunderttausendfach geklickt wurden. Zu Ostern sangen sie Leonhard Cohens "Hallelujah" ein und als Hommage an die Opfer der Pandemie und ihre Angehörigen "The Rose" von Bette Midler.
Chorproben per Zoom-Konferenz gab es für den Jugendchor Sankt Stephan allerdings keine. "Das geht vielleicht mit 20 oder auch noch 30 Leuten, aber nicht mit 80". Michael Kokott hat diese Option gar nicht erst in Erwägung gezogen, sondern nach dem Wiederbeginn ab Juni erst einmal den Chor geteilt und dann immer wieder neue Räumlichkeiten aufgetan: Neben einem großen Kirchraum war eine Schul-Aula dabei, und dann ein Parkhaus, in dem endlich wieder alle zusammen Platz fanden - und jetzt eben der Disco- und Konzertsaal.
Als Chorleiter sieht sich Michael Kokott in großer Verantwortung; er will auf keinen Fall "auf Biegen und Brechen" weiterproben, sagt er, und im November dann wohl auch pausieren. Andererseits ist da eben der Herzenswunsch, das merkwürdige Corona-Jahr doch noch mit dem Weihnachts-Auftritt im Dezember abzuschließen. Ohne ein gemeinschaftlich gestaltetes Üben wird das nichts. "Wir müssen irgendetwas erfinden", sagt er und gibt den Einsatz zum letzten Lied. "Leute, es sind vielleicht die letzten Töne vor dem Lockdown". Und dann singen sie dasselbe Stück wie damals im März – "Zesommestonn" – Zusammen stehen..