Linguist über das Wort des Jahres

"Postfaktisch"

"Postfaktisch" ist das Wort des Jahres. Pegida, Flüchtlinge, US-Wahlkampf: Manche Debatten wurden und werden polemisch und mit wenig Interesse an Fakten geführt. Warum das so ist, erläutert der Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth.

"Postfaktisch" ist Wort des Jahres 2016 / © Susann Prautsch (dpa)
"Postfaktisch" ist Wort des Jahres 2016 / © Susann Prautsch ( dpa )

KNA: Was halten Sie vom Wort des Jahres 2016?

Joachim Scharloth (Professor für Angewandte Linguistik an der Technischen Universität Dresden): "Postfaktisch" ist sicher eine gute Wahl, weil sich in ihm eine wichtige gesellschaftliche Debatte verdichtet. Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass schon die Herkunft des Wortes "Faktum" darauf verweist, dass es sich bei Fakten immer auch um etwas Gemachtes handelt und es eine "objektive Wirklichkeit" nicht gibt.

Politik ist immer eine Auseinandersetzung über Fragen, auf die es keine einfachen Antworten im Sinne eines einfachen "Richtig" oder "Falsch" gibt. Der Begriff "postfaktisch" mahnt aber, dass die Lüge oder das Ignorieren von Fakten kein konstruktiver Teil einer politischen Kultur sind. Und das scheint nötig.

KNA: Können Menschen, die "postfaktisch" reden, von sachlichen Argumenten überhaupt erreicht werden?

Scharloth: Hassrede und Polemik sind Ressourcen, mit denen Aufmerksamkeit erzeugt und Politik gemacht wird. Weil es bei ihnen nicht um Wahrheit geht, sind Argumente auch nicht anschlussfähig. Aus meiner Sicht muss ein Bewusstsein für diese Form der Politik geschaffen werden. Die Art der Berichterstattung über verbale Entgrenzungen sollte sich entsprechend ändern, damit die Resonanzkalküle der Provokateure nicht mehr aufgehen.

KNA: Warum drücken sich manche Menschen nicht differenziert aus?

Scharloth: Dafür gibt es aus meiner Sicht zwei Gründe. Zum einen ist Aufmerksamkeit in Zeiten digitaler Öffentlichkeit ein knappes Gut geworden. Während es früher überhaupt schwierig war, in die Medien zu kommen, kann sich heute zwar jeder jederzeit öffentlich äußern, aber die Chance, Gehör zu finden, ist geringer.

KNA: Können Sie das näher ausführen?

Scharloth: Undifferenziert, herabwürdigend oder ausgrenzend zu sprechen hat das Potenzial, dass sich andere Menschen darüber erregen. Das führt zu Anschlusskommunikation, die Aufmerksamkeit auf das Gesagte und die Person, die es gesagt hat, lenkt. Es sind oft Resonanzkalküle, die Bewegungen wie Pegida oder Politiker veranlassen, undifferenzierte, teils tabuisierte Dinge zu sagen - getreu dem Motto "There is no such thing as bad publicity".

Andererseits bietet die immer wieder behauptete Vorstellung, die Meinungsfreiheit sei durch eine übertriebene "Political Correctness" in Gefahr, Politikerinnen und Politikern die Möglichkeit, sich als unabhängige, autonome Persönlichkeit zu inszenieren, die von "dem Establishment" oder einer vermeintlich vom Volk entfremdeten "politischen Klasse" noch nicht korrumpiert ist.

KNA: Woher kommt "Political Correctness"?

Scharloth: Der Begriff wurde von rechtskonservativen Kreisen in den USA geprägt, um Bemühungen um eine größere Sprachsensibilität als illegitim erscheinen zu lassen und sich gegen Kritik zu immunisieren.

Die Bezeichnung "politisch korrekt" unterstellt, dass etwas nur aufgrund politisch motivierter Rücksichtnahmen "korrekt" sei, gemessen an "der Wirklichkeit" aber falsch. Diese Ideologie macht Sätze wie "Truth is the new Hate Speech" ("Wahrheit ist die neue Hassrede") plausibel. Wer Dinge sagt, die vom vermeintlichen Establishment als Hassrede bezeichnet werden, sagt also die Wahrheit entgegen aller Widerstände.

KNA: Seit wann ist die oben angesprochene Entwicklung zu beobachten?

Scharloth: Ich denke nicht, dass wir undifferenzierter sprechen als früher. Politische Auseinandersetzungen waren auch früher nicht gerade von Differenzierung und einem rationalen Abwägen von Argumenten geprägt. Die strategische und emotionale Aufladung von Konflikten war schon immer der dominante Modus der öffentlichen politischen Kommunikation. Wir erleben vielleicht gerade einen Backlash, also einen Gegenschlag. Aber in der Tendenz ist die Sprachsensibilität in unserer Gesellschaft und besonders auch in der Politik gewachsen.

KNA: Differenzierungen haben etwas mit Respekt zu tun. Ist dieser auf dem Rückzug?

Scharloth: Das ist schwierig zu beantworten. Sicher ist es so, dass soziale Netzwerke davon leben, dass Menschen sich ständig exponieren und eine fortwährende Identitätspolitik betreiben. Viele Menschen machen ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstachtung damit stark abhängig von Dritten, ja teilweise sogar von Fremden und entkoppeln es so vom privaten, individuellen Selbstbezug. Das macht angreifbar, und ein Angriff wiegt subjektiv sicher schwerer als zehn "Likes". Das mag zu dem Eindruck führen, dass Respekt auf dem Rückzug ist.

KNA: Wie kann man möglichst vorurteilsfrei und differenziert reden?

Scharloth: Zunächst: Man kann nicht vorurteilsfrei sprechen. Immer, wenn wir über jemanden sprechen, kategorisieren wir diese Personen und Gruppen dadurch, dass wir Wörter benutzen, die bestimmte Aspekte an ihnen hervorheben und relevant setzen. Auch das kann man nicht vermeiden. Gleichwohl besteht wohl Konsens darüber, dass man normalerweise darum bemüht sein sollte, Menschen nicht zu verletzen oder auszugrenzen, wenn man mit ihnen oder über sie spricht.

KNA: Wann ist eine Äußerung verletzend oder diskriminierend?

Scharloth: Einige sind der Ansicht, dass die Macht zur Definition allein bei denen liegt, die sich als Opfer sprachlicher Gewalt fühlen. Ich halte diese Perspektive nicht für hilfreich, weil sie behauptet, dass die verletzende Kraft von Äußerungen unabhängig von den Absichten des Sprechers und dem Gehalt der Äußerung ist. Entsprechend wäre die Äußerung nicht mehr als eine Projektionsfläche innerpsychischer Konflikte des Adressierten. Es wäre daher leicht, sprachliche Gewalt als Paranoia ihrer Opfer abzutun. Umgekehrt ist es sicher auch nicht zutreffend, dass ich jemanden nur dann beleidige, wenn ich mit einer Äußerung dies auch beabsichtige. Günther Oettingers Rede von den Schlitzaugen war offenbar nicht beleidigend intendiert, wurde aber dennoch von vielen so wahrgenommen. Deshalb war es auch richtig, dass er sich dafür entschuldigt hat. Das zeigt schon, dass die verletzende Kraft sprachlicher Äußerungen sich nur aus einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren erklären und die Wahrnehmung durch Dritte dabei immer eine wichtige Rolle spielt. Wer empathisch spricht und darauf achtet, wie seine Aussagen wirken, wird nicht viel falsch machen.

Das Interview führte Leticia Witte.


Quelle:
KNA