„Diese Grotte ist die Schutzhütte aller in tiefen Ängsten lebenden Seelen, die Schutzhütte, in der alle vom Leben geschlagenen ihre letzte Zuflucht suchen; sie bietet den Verdammten und Gequälten Unterschlupf, die nirgends mehr Erleichterung finden; alles Leid der Welt lässt sich zusammengeballt in diesem engen Raum nieder“, schreibt der französische Kultautor Joris-Karl Huysmans in seinem 1906 in Frankreich erschienen Buch "Lourdes, Mystik und Massen". Kurz vor seinem Tod besucht der Autor den Wallfahrtsort. Er ist von Freunden 1903 und 1904 eingeladen worden und sehr skeptisch, denn Massenaufläufe und Kitsch sind ihm zuwider. Und so ist er auch in Lourdes zwiegespalten. Der Ort sei zugleich göttlich und abstoßend, schreibt er. Lourdes sei der Gipfel der Geschmacklosigkeit und die Rosenkranz-Basilika mit den Lichterketten erinnert ihn an ein Pfefferkuchenhaus. Albern, schmalzig und schrill sei das Kirchenschiff.
Eine Entdeckungsreise nach Lourdes
"Der Autor Huysmans haut da schon mächtig auf die Pauke. Der ist ein Ästhet durch und durch. Sein Vater war Maler. Er ist also mit Kunst aufgewachsen, und dann ist das für ihn natürlich ein Horror“, sagt Dr. Hartmut Sommer. Er hat jetzt das Lourdes-Buch aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt. Lange blieb das Buch in Deutschland unbeachtet. Als es in Frankreich 1906 erschien, galt Lourdes in Deutschland als nationalistisch überhöht. Das Buch ging in der deutsch-französischen Rivalität der Zeit unter. Später geriet Lourdes dann aus dem intellektuellen Blickfeld, so dass es 114 Jahre dauerte, bis dieses hellsichtige Lourdes-Buch jetzt in deutscher Sprache erscheint. Huysmans macht es dem Leser aber auch nicht einfach mit seiner Lourdes-Entdeckungsreise, eben weil Lourdes für ihn zwiespältig ist. Die Massenaufläufe, die Geschäftigkeit, die Architektur drumherum und auch das Heuchlerische vieler Beter stoßen ihn ab.
Das ist die eine Seite, die der Autor in seinem Buch beschreibt. Dann aber besucht er die Krankenhäuser und ist zutiefst berührt vom Leid der schwerkranken Pilger, die 1903 nach Lourdes gefahren sind, um Hilfe und Trost zu erfahren. "Lourdes ist wie jede Wallfahrt, jedes Gebet, Trost und Hinwendung zu einem Rettenden, was uns über den Tod hinausträgt und in der Verzweiflung dieser schweren Krankheiten, die die Leute eben auch haben, tröstet“, sagt der Übersetzer Dr. Sommer.
Der Autor Huysmans erzählt die Geschichte der schwerkranken Menschen, die nach Lourdes pilgern - er schildert sehr anschaulich ihr Siechtum und Leiden. Der Autor erlebt die Verletzlichkeit des Leibes und fragt sich auch: Warum sind wir in diesem verletzlichen Leib? "Paulus verbietet uns ja indirekt im Römerbrief die Frage zu stellen, wie Gott das Leid zulassen kann“, sagt der Übersetzer Sommer, "das sei unanständig, danach zu fragen: Warum hast du uns so gemacht? Das können wir nicht verstehen. Aber das ist natürlich eine Frage, die sich aufdrängt, wenn man so viel Leid sieht“.
Das Leid der Menschen
Der Autor Huysmans ist zum Katholizismus konvertiert. Auch er ist schockiert vom Leid und den Schmerzen der schwerkranken Pilger in Lourdes: "Während ich das Krankenhaus verlasse, sage ich mir, dass Lourdes nicht so einfach zu verstehen ist, wie es sich die Katholiken und Ungläubigen denken. Für die einen ist es ein Wunder, für die anderen gar nichts. Meiner Ansicht nach gibt es noch etwas anderes: das sehr beunruhigende Mysterium eines Gottes, der Parodien zuläßt und sich wieder zurücknimmt“.
Beeindruckt ist Huysmans in Lourdes auch von der Internationalität des katholischen Glaubens und der Verschmelzung aller sozialer Schichten. Hier sind alle Menschen, ob reich oder arm vor der Muttergottes, gleich. "Das ist eine der schönsten Stellen überhaupt im Buch, wo er schreibt, wie die verschiedenen Kerzen, die dicken Kerzen der Reichen, die kleinen, dünnen Kerzen der Armen, wie die im gemeinsamen Gebet aufflammen zum Himmel“, erzählt Hartmut Sommer.
Die Wunderheilungen in Lourdes sind nicht erklärbar
Als aufgeklärter Intellektueller erzählt Huysmans auch davon, wie er 1903 das Büro besucht, das für die Anerkennung von Wunderheilungen in dem Wallfahrtsort zuständig ist. Wir erfahren mit welcher Gründlichkeit hier gearbeitet wird, bis ein Wunder offiziell anerkannt ist. "Ja, er denkt schon, dass es die Wunder gibt. Er hat ja selber Ereignisse erlebt, die er schildert, die man nicht vom Tisch wischen kann“, erzählt Hartmut Sommer. "Ich habe, als ich dieses Buch übersetzt habe, mir auch moderne medizinische Literatur dazu angeschaut. Lourdes ist immer noch ein Stolperstein für die moderne Medizin. Was geht da vor? Es sind halt wirklich Heilungen. Die sind einfach nicht erklärlich, daß sich Wunden in kürzester Zeit schließen und so weiter. Das ist bis heute ein Mirakel“.
Von diesen Mirakeln erzählt Huysmans in seinem spannenden Buch, das einem den berühmten Wallfahrtsort und ein katholisches Glaubensphänomen nahebringt - selbst wenn man kein überzeugter Katholik ist. "Das Phänomen des Religiösen ist ja etwas, mit dem sich jeder befassen muss. Auch der, der das Religiöse ablehnt, wird sich fragen, wieso kommt das, dass da so eine Inbrunst, so ein Glaube, so eine Kraftquelle existiert? Und so viele Menschen zusammenkommen? Was passiert da? Das wird in dem Lourdes-Buch von Huysmans ein Stückchen verstehbar“, sagt Hartmut Sommer.