Maike Wetzel über ihren Roman 'Elly'

Wenn ein Kind verschwindet, ist der Schmerz ein 'Dauerfeuer'

'Alle behaupten, die Zeit heile alle Wunden, aber unsere Zeit steht still". Das sagt die Mutter der elfjährigen Elly. Das Kind verschwindet spurlos, ist wie vom Erdboden verschluckt. Maike Wetzel erzählt in ihrem Roman 'Elly', wie die Familie des Kindes den Verlust ihrer Tochter und Schwester aushält.

Maike Wetzel / © Andreas Potthoff (Schöffling)

Wenn ein Kind plötzlich verschwindet, hört alles auf. 'Der Schmerz ist ein Dauerfeuer', läßt die Autorin Maike Wetzel die Mutter von 'Elly' sagen. An einem leicht bewölkten Juninachmittag verschwindet die elfjährige Elly auf dem Weg zum Judotraining. Sie kommt nie dort an. Was dann passiert, erzählt Maike Wetzel aus der Perspektive der Eltern und der Schwester Ines. "Ines ist zwei Jahre älter und sie ist die Widerständigste in diesem Buch", beschreibt die Autorin ihre Romanfigur: "Sie vermisst ihre Schwester natürlich auch, aber sie entwickelt dann so etwas wie eine trotzige Widerstandskraft".

Was bedeutet Identität?

Der Schmerz verändert die Familie. Elly ist verschwunden, nicht zu wissen, ob sie noch lebt und was mit ihr passiert sein könnte, hat etwas Zerstörerisches. "Zerstörerisch, ja", sagt Maike Wetzel, "aber auch etwas sehr Schöpferisches. Als Ines zum Beispiel im Krankenhaus liegt, macht sie aus ihrer Bettnachbarin mit der Kraft der Phantasie etwas Neues". Ines stellt sich vor, dass ihre Zimmernachbarin die verschwundene Schwester sei. Das andere Mädchen ist so fasziniert von Ines, dass es die Verwandlung mitspielt. So stellt der Roman 'Elly' auch die Frage, nach Identität und Selbstbewußtsein. "Mich hat interessiert, wie wir den anderen erkennen? Was bedeutet Identität? Was macht eine Person unverwechselbar und wie fragil ist das?", fragt Maike Wetzel.

Schmerz und Schuld

Der Schmerz über das Verschwinden von Elly verwandelt die Familie. Die Eltern zermartern sich, fühlen sich auch schuldig, obwohl sie für das Verschwinden von Elly keine Verantwortung tragen. "Eine Reaktion, die für Menschen nach extremen Verlusten durchaus typisch ist", sagt die Autorin: "Von Überlebenden der Shoah ist auch bekannt, dass sie enorme Schuldgefühle haben, obwohl sie ja nun sicher nicht an dem Schuld sind, was ihren Verwandten widerfahren ist".

Eine berührende Geschichte über Verwandlungen

Maike Wetzel schickt ihre Romanhelden durch die Hölle. Die Autorin fragt, was ist der Mensch? Was macht ihn aus? Ein Mädchen verschwindet. Doch Elly bleibt allgegenwärtig, präsent in Gedanken, Taten und Schuldgefühlen ihrer Eltern und der älteren Schwester. Elly erzählt eine berührende Geschichte über Verwandlung, Nähe und Fremdheit, Wahrheit und Illusion.

In dem Roman geht auch es um die vielen Tode, die wir im Leben sterben. Wenn wir verraten werden, wenn liebste Menschen sterben. Ganz am Ende sagt die Schwester von Elly: "Ich laufe einfach weiter. Ich komme nicht an". Ein nur tragisches Ende – ohne Sinn? "Ich finde das Ende nicht nur tragisch", antwortet die Autorin, "dass sie nicht ankommt, bedeutet ja auch letzten Endes, nicht zu sterben".


Quelle:
DR