Notfallseelsorger blickt auf Nöte und Sorgen nach der Flut

"Manche sind wie erstarrt"

Wolfgang Henn ist seit dem Morgen nach der Flut als Notfallseelsorger im Ahrtal und in Sinzig im Einsatz. Im Interview spricht er über aktuelle Herausforderungen und warum das Warten für viele Menschen besonders schlimm ist.

Nach dem Hochwasser / © Harald Oppitz (KNA)
Nach dem Hochwasser / © Harald Oppitz ( KNA )

KNA: Was waren Ihre ersten Eindrücke der Katastrophe?

Wolfgang Henn (Notfallseeelsorger und Pastoralreferent im Ruhestand): Ich wurde am Donnerstagmorgen als Notfallseelsorger zu einer Notunterkunft gerufen und wusste nicht genau, was mich erwartet. Ich hatte nur stichwortartige Informationen, Ahrweiler ist evakuiert, es gibt eine Flutkatastrophe. Das Ausmaß war zu dem Zeitpunkt nicht absehbar. Wir Notfallseelsorger waren für die Menschen da, die mit Bussen dort ankamen, haben zugehört, Fragen beantwortet, die Abläufe in der Notunterkunft erklärt.

Später hatte ich dann den Auftrag, nach Dernau zu fahren und bei der Evakuierung und Bergung von Toten dabei zu sein. Mit zwei Kollegen bin ich durch den Ort gegangen, wir haben den Menschen zugehört, uns mit ihnen über ihre Rettung gefreut und uns einen ersten Eindruck vom Ausmaß der Katastrophe gemacht. Zum Abschluss der Bergung haben wir bei den in der Kirche abgelegten Toten ein Gebet gesprochen.

KNA: Wie haben Sie das erlebt?

Henn: Als surreale Mischung. Es gibt die Wohnbereiche, in denen noch alles in Ordnung ist, ein Stück heile Welt. Dann das Chaos mit Schlamm, Müll, Dreck. Und dann die Tragik. Menschen, von denen wir wissen, dass sie in ihren Häusern waren, aber von denen wir nicht wissen, ob sie noch leben. Menschen, die Angehörige, Freunde vermissen. In dem Moment funktioniere ich als Notfallseelsorger und wende mich den Menschen zu. Ich versuche, mit den Leuten auf ihre Themen und Fragen einzugehen und zu schauen, was sie brauchen.

KNA: Was können Sie für diejenigen tun, die Schlimmes erlebt haben?

Henn: Die Bedürfnisse sind ganz unterschiedlich. Manche sind wie erstarrt. Die brauchen einen Schutzraum und müssen abgeschirmt werden. Andere wollen ihre Erlebnisse loswerden und erzählen. Dazwischen liegen viele Zwischentöne. Zu sagen, "Das wird schon wieder", ist in der Phase völlig fehl am Platz. Wichtig ist, das ernst zu nehmen, was die Menschen äußern.

KNA: Das ist jetzt drei Wochen her. Welche Veränderungen nehmen Sie wahr?

Henn: Die Emotionen brechen immer mehr durch. Solange die Leute etwas zu tun hatten, waren sie beschäftigt. Jetzt müssen sie auf Entscheidungen warten. Beispielsweise, ob der Estrich drin bleiben kann, wo der Müll hinkommt oder ob das Haus stehen bleiben kann. Das Warten ist die Phase, in der Menschen an ihre Grenzen kommen. Ich höre immer wieder: "Tagsüber geht es ganz gut, da bin ich abgelenkt. Aber nachts kommen die Alpträume. Ich wage gar nicht mehr, zu schlafen."

Alpträume, das ist ein Stück weit normal - auch wenn es sehr schwer auszuhalten ist. Die Seele hat durch die Katastrophe eine Wunde bekommen und muss das jetzt verarbeiten. Wenn sich Alpträume, Zwangsgedanken oder Vermeidungsstrategien aber über längere Zeit verfestigen, sollte man über professionelle Hilfe nachdenken.

KNA: An welchem Punkt stehen Sie in der Seelsorge?

Henn: Wir sind in Sinzig im Übergang von der Akutphase in eine dauerhaftere Form der Seelsorge. Noch bestehen verschiedene Angebote nebeneinander, Anlaufstellen, Menschen die durch die Straßen gehen, Notfallversorgung, Nachsorge für Helfer. Wir müssen schauen, was wir langfristig brauchen und wie wir das organisieren.

Wir haben im Moment hier im Ort eine Anlaufstelle von privaten Helfern, die ihre Büroräume zur Verfügung stellen, wo tägliche viele Leute vorbei kommen. Auch Menschen von der Kirche bringen sich dort ein. Für viele Betroffene ist diese Anlaufstelle zu einem Haltepunkt im Alltag geworden, der zu ihrer Tagesstruktur dazu gehört. Dort ist auch eine Gruppe von 20 Syrern nebenan untergebracht, die aus ganz Deutschland angereist kamen und hier helfen.

KNA: Sie arbeiten jeden Tag mit einer neuen Situation.

Henn: Aus der Flut ergeben sich viele Probleme, auf die wir reagieren. Es meldeten sich Familien, denen von der Hausverwaltung ihrer Wohnblocks jetzt gekündigt wurde. Da konnte ich einen Kontakt zu einer Rechtsanwältin vermitteln. Oder es melden sich Menschen, die nicht so schnell waren, den Schlamm aus ihren Wohnungen und Kellern zu schippen, die vielleicht schon älter sind und nicht mehr ganz fit, und die den kontaminierten Schlamm nun privat entsorgen müssen.

KNA: Was können Sie da tun?

Henn: Wir hören zu, organisieren viel. Und wir können das, was in den Menschen an Kräften ist, bündeln und verstärken, und die Situation mit ihnen aushalten. Auch ein Stück Lobbyarbeit etwa für Sozialschwächere können wir leisten. Ich versuche, nichts für die Leute zu tun, sondern mit ihnen - soweit das möglich ist. Denn durch die Katastrophe sind sie ein Stück Opfer geworden und haben für viele Stunden die Kontrolle verloren. Ich will sie durch mein Handeln nicht wieder zum Opfer machen, indem ich sie nicht einbeziehe. Wir unterstützen sie bei ihren Anliegen, aber sie entscheiden.

Für Kirche, die teilweise ein schlechtes Image hat, ist das auch eine Chance. Durch das, was wir tun, erleben die Menschen Zuwendung. Und bei einigen hat sich das Bild von Kirche durch den direkten Kontakt verändert.

KNA: Wie blicken Sie in die kommenden Monate?

Henn: Wir fahren im Moment nur auf Sicht. Für langfristige Perspektiven ist es zu früh. Wir improvisieren viel und leben davon, dass wir Kontakte haben und die vermitteln können, je nachdem, was gebraucht wird. Das müssen wir in dauerhaftere Strukturen einbauen.

Und ich wünsche mir, dass das bleibt, was sich an Gemeinschaftsgefühl und Bereitschaft, dem anderen zuzuhören, ergeben hat. Wir sind durch die gemeinsame Katastrophe viel mehr zusammengewachsen.

Das Interview führte Anna Fries.


Zerstörter Friedhof in Ahrweiler / © Harald Oppitz (KNA)
Zerstörter Friedhof in Ahrweiler / © Harald Oppitz ( KNA )

Die Flutkatastrophe im Sommer hat auch Kirchen und die kirchliche Arbeit getroffen / © Henning Schoon (KNA)
Die Flutkatastrophe im Sommer hat auch Kirchen und die kirchliche Arbeit getroffen / © Henning Schoon ( KNA )

Schlammverschmierte Arbeitshandschuhe / © Harald Oppitz (KNA)
Schlammverschmierte Arbeitshandschuhe / © Harald Oppitz ( KNA )

Nach dem Hochwasser in Nordrhein-Westfalen / © Oliver Berg (dpa)
Nach dem Hochwasser in Nordrhein-Westfalen / © Oliver Berg ( dpa )
Quelle:
KNA