Martin Walser zu Gast in Marbach

Im unterirdischen Himmel angekommen

Selbst die Sommerhitze scheint dem 95-jährigen Martin Walser kaum etwas anzuhaben: Am Sonntag besuchte der Autor zur Übergabe seines Vorlasses das Deutsche Literaturarchiv Marbach.

Autor/in:
Silke Uertz
Der Schriftsteller Martin Walser am 3. Juli 2022 in Marbach / © Holm Wolschendorf (KNA)
Der Schriftsteller Martin Walser am 3. Juli 2022 in Marbach / © Holm Wolschendorf ( KNA )

Endlich war es soweit: Am Sonntag übergab der Schriftsteller Martin Walser seinen Vorlass dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA). In die Schillerstadt kam er in Begleitung seiner Frau Käthe sowie seinen Töchtern Theresia, Johanna, Alissa und Franziska.

Martin Walser im Gespräch (KNA)
Martin Walser im Gespräch / ( KNA )

Sie, die Schauspielerin, las mit ihrem ebenso aus der Branche stammenden Mann Edgar Selge und deren Sohn Jakob Walser aus den Werken Martin Walsers. Nach diesem "Theater", so Walser humorvoll, wolle er gern ein Grußwort sprechen.

Der die Nachkriegszeit prägende Autor saß im rosafarbenen Hemd im Rollstuhl vor der Bühne. Das hat Seltenheitswert, denn während der Corona-Zeit hatte sich der wohl bedeutendste lebende Schriftsteller Deutschlands rar gemacht.

In seinem Domizil am Bodensee schrieb er fleißig weiter: Kurz vor seinem 95. Geburtstag im März erschien "Das Traumbuch - Postkarten aus dem Schlaf". Ebenfalls im März erwarb das DLA den Vorlass des Chronisten, Moralisten, Aphoristikers und "dunklen Romantikers", wie ihn DLA-Direktorin Sandra Richter nannte. "Der Name erschließt einen Kosmos", befand die Germanistin. Nun sei sein Vorlass im unterirdischen Himmel angekommen, wie Walser das DLA einmal genannt hat.

Zehntausende handschriftliche Seiten

Über das Konvolut können sich Forschende freuen: Es umfasst etwa 75.000 handschriftliche Seiten, darunter Entwürfe und Manuskripte der Werke sowie Fotos, audiovisuelle Medien, Computer-Dateien und 75 Tagebücher. Widmungsexemplare anderer Autoren zeugen von Freundschaften - wie auch die Briefwechsel mit Literaten und Verlegern, darunter Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Jürgen Habermas, Hans Werner Richter, Arno Schmidt, Ruth Klüger, Rudolf Augstein und Siegfried Unseld.

Die Archivalien dokumentieren auch Walsers Arbeit beim Süddeutschen Rundfunk, seine Beteiligung an der Gruppe 47 und seine Verbindung zu den Verlagen Suhrkamp und Rowohlt. Zudem wartet nun die Privat- und Arbeitsbibliothek des Schriftstellers mit mehr als 7.800 Bänden auf eine wissenschaftliche Auswertung auf der Schillerhöhe.

Dort war er im Laufe seines Autorenlebens oft zu Besuch und pflegt ein gutes Verhältnis - eine Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag 2027 im Literaturmuseum der Moderne (LiMo) ist schon jetzt geplant.

Zu Walsers bekanntesten Büchern gehört neben den Romanen "Ehen in Philippsburg" (1957), "Brandung" (1985) und "Tod eines Kritikers" (2002) die Novelle "Ein fliehendes Pferd" (1978). Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen zählen der Georg-Büchner-Preis 1981 und der Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1998. Bei der Verleihung der Ehrung sorgte er mit seiner "Paulskirchenrede" für heftige Debatten über die Aufarbeitung der NS-Zeit.

Antisemitismusdebatte

Denn er warnte vor der Instrumentalisierung des Holocausts und der "Moralkeule" Auschwitz, und das damals in Planung befindliche Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin bezeichnete er als "fußballfeldgroßen Alptraum" und eine "Monumentalisierung der Schande". Als Folge wurde ihm Antisemitismus vorgeworfen - wie auch für sein Buch "Tod eines Kritikers", durch das der jüdische Literaturkritiker und Überlebende des Warschauer Ghettos, Marcel Reich-Ranicki, tief getroffen war. Später revidierte Walser seine Aussagen, zeigte sich begeistert über das Mahnmal und bekannte, er könne die Preisrede so nicht mehr halten.

Seinen Vorlass hatte Walser dem DLA 2004 versprochen. Ermöglicht hatten den Kauf die Kulturstiftung der Länder, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, das baden-württembergische Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, der Sparkassenverband im Südwesten und der Zweckverband Oberschwäbische Elektrizitätswerke. Zum Kaufpreis machte das DLA - wie bei solchen Vorgängen üblich - keine Angaben.

Selbst heute noch eckt der Intellektuelle an. Er zählt zu den Erstunterzeichnern des "Offenen Briefs an Kanzler Olaf Scholz" in der Zeitschrift "Emma", der Waffenlieferungen an die Ukraine aus Angst vor einem Weltkrieg ablehnt. Zugesagt hatte er am Sonntag ein Grußwort - und das hielt er ein: Er dankte dem Publikum und lobte die Zusammenarbeit mit Richter. Zum Schluss signierte der Hochbetagte bei schweißtreibenden Temperaturen munter Bücher.

Quelle:
KNA